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Corona-Krise: Digitale Transformation in der Bewährungsprobe

Beitrag von Andreas Boes, Institut für sozialwissenschaftliche Forschung e.V.

Mitarbeit: Jutta Witte
Selten dürfte der Wunsch der Menschen miteinander zu reden größer gewesen sein als in der Krise, die wir gerade erleben. Und ausgerechnet jetzt, wo das Bedürfnis nach Gesprächen und direktem Austausch so groß ist, zwingt uns die Pandemie zum Rückzug – bis in unsere Wohnungen und Häuser. In dieser Krise zeigt sich, wie wichtig das Internet für den Zusammenhalt einer modernen Gesellschaft sein könnte. Doch gerade mit Blick darauf, was möglich wäre, wird deutlich, was in den letzten Jahren bei der digitalen Transformation versäumt wurde. Das gilt nicht zuletzt für die Art und Weise, wie wir sie vorangetrieben haben. Und zwar in technischer, aber insbesondere in sozialer Hinsicht.

Ultimativer Stresstest

Die aktuelle Krise beinhaltet einen ultimativen Stresstest für die digitale Transformation. Zum einen aus rein technischen Gründen. Das Internet war schon immer eine kritische Infrastruktur. Aber, dass selbst Netflix anbietet, sein Datenvolumen und damit seine Streaming-Qualität zu reduzieren, macht deutlich wie schlecht die Infrastruktur nach vielen Jahren des Internetausbaus immer noch ist. In einem Bundesministerium brach der Server vor kurzem schlicht zusammen, als ein Großteil der Mitarbeitenden ins Home Office wechselte. Viel wichtiger aber als die technische Infrastruktur ist die Kompetenz der Menschen bei der Nutzung des mit dem Internet entstandenen Informationsraums. Es geht – drei Jahrzehnte nach der Erfindung des World Wide Web – in Deutschland noch immer um Akzeptanz für die Technik. Es geht aber zu wenig darum, Menschen zu befähigen, mit dem Informationsraum ihre Handlungsmöglichkeiten in der Welt substanziell zu erweitern. Das ist fatal.

Riesige Chancen

Denn wenn die Netze und Server standhalten, sind die Chancen, die im Informationsraum liegen, gerade jetzt riesig. Viele Menschen arbeiten im Homeoffice und nutzen dazu den Informationsraum. Was vorher in vielen Unternehmen nicht für möglich gehalten wurde: Plötzlich geht es doch. Viel Fahrerei fällt weg und Menschen erleben mehr Zeitsouveränität. Dass die dann oft wegen Homeschooling und Klopapierbeschaffung suboptimal genutzt werden kann, steht auf einem anderen Blatt. Wir dürfen auch nicht verkennen, wie wichtig der Informationsraum geworden ist, um Zusammenhalt und Fürsorge zu organisieren. Auch in meiner über die Welt verstreuten Familie läuft eine schon länger eingeschlafene Chatgruppe gerade wieder auf Hochtouren. So entsteht trotz räumlicher Entfernung oft große soziale Nähe. #SocialDistancing ist also eigentlich der falsche Begriff. Der Informationsraum sichert in einer Situation, in der alle Bildungseinrichtungen, Bibliotheken und Buchläden geschlossen sind, auch die Beschaffung von notwendigen Informationen und Wissen – er ermöglicht Bildung in einer neuen Form. Selten wurde zum Beispiel so viel über Exponentialsteigungen und die Interpretation von Kurvenverläufe debattiert wie heute. Der Informationsraum boomt regelrecht als Informationsquelle und als Bildungsmedium, um die neuesten Zahlen zur Ausbreitung des Virus zu erhalten und sich eine eigene Meinung über die weitere Entwicklung zu bilden. Das ist sehr wichtig in einer Gesellschaft, die sich einer unbekannten Bedrohung gegenübersieht.

Hohe Hürden

Dies zeigt: Mit der Digitalisierung sind im Informationsraum sehr konkrete Gebrauchswerte entstanden, von denen wir jetzt profitieren und mit denen wir uns anders organisieren können – oder vielmehr müssen – als viele es bislang gewohnt waren. Das fällt nicht allen leicht. Die Schulen und Hochschulen sind geschlossen, aber viele Lehrer und Professoren verfügen nicht über die notwendige Qualifikation für Onlineunterricht,- lehre und -prüfungen oder – mehr noch – um in virtuellen Klassenräumen und Hörsälen zu agieren. Die Initiativen der Community um den Hashtag #TwitterLehrerzimmer bilden mit ihrem Ideenreichtum und ihrer Energie, neue Bildungskonzepte zu entwickeln, einen vielversprechenden Kontrapunkt zur analogen Tristeste von Schulen und Hochschulen. Immer mehr Betriebe und öffentliche Institutionen schicken ihre Leute ins Home Office, aber viele Mitarbeitende, Führungskräfte und auch die Leitungen an der Spitze haben kaum Erfahrungen wie das erfolgreich organisiert werden kann. Und im Übrigen können alle diejenigen, die im Handel und im Gesundheitswesen Schwerstarbeit leisten und dabei – trotz vieler Applaus-Aktionen und anerkennender Worte – weiter auf die materielle und immaterielle Anerkennung der Gesellschaft warten, von Home Office nur träumen. Auch für die Beschäftigten in der industriellen Produktion ist es keine Option. Dort, wo es wie in der Automobilindustrie starke Betriebsräte gibt, werden die Werke geschlossen und die Lösung lautet Überstunden abbauen und Kurzarbeit.  Und längst nicht jeder Privathaushalt, der jetzt neben Heimarbeit auch noch Homeschooling stemmen muss, verfügt über das notwendige Equipment und Know How

Neue Gerechtigkeitsfrage

Nicht jeder kann also, auch das ist Teil der Wahrheit, am Informationsraum angemessen partizipieren. Es zeigen sich deutlich unterschiedliche Kompetenzstrukturen im Umgang mit dem Informationsraum. Und die drohen, wenn wir nicht aufpassen, alte Verwerfungen und Konfliktlinien zu verstärken. Die Frage nach Gerechtigkeit und Chancengleichheit stellt sich vor diesem Hintergrund mit neuer Brisanz. Schon vor 15 Jahren konnten wir in unseren Studien zur Nutzung des Internets deutlich erkennen, dass der Zugang zu dieser wichtigen Handlungsebene vor allem entlang des schulischen und des beruflichen Bildungsabschlusses strukturiert ist (Boes/Preißler 2005; Boes et al. 2006). Wenn wir heute also sehen, dass wir mehr dafür tuen müssen, den Informationsraum zu nutzen, dürfen wir nicht übersehen, dass sich aus diesen Unterschieden eine manifeste Spaltung entwickeln kann.

Paradigmenwechsel für die Gesellschaft

Aber bei allen berechtigten Fragen und Bedenken: Für uns öffnet sich jetzt ein historisches Zeitfenster, in dem für alle spürbar wird wie sehr wir den Informationsraum brauchen und welche Potenziale er bietet. Wohlgemerkt: Für die Menschen bietet! Wird also nach der Pandemie wirklich alles anders? Ich muss gestehen, ich bin nicht allzu optimistisch. Zunächst einmal werden nach der Corona-Krise die gleichen Entscheider noch in ihren Ämtern sein, die heute lieber ganze Schulen und Universitäten für Monate lahm legen statt die vielen innovativen Projekte, die es ja gibt, zu nutzen, um eine neue Form der Bildung zu etablieren. Auch die Führungskräfte werden weiter machen, die schon immer überzeugt waren, dass Homeoffice den Niedergang der Wirtschaft bringen wird. Ich fürchte, sie werden dann dafür sorgen, dass die Energie, die viele Menschen aktuell trotz der Widerstände und Sorgen spüren, statt in die Praxis einer anderen Welt wieder in neue Masterpläne fließt. Bis diese Masterpläne dann durch Kommissionen und Expertengremien evaluiert und validiert sind, haben die Menschen vermutlich vergessen, dass Homeoffice funktionieren kann und Schule im Informationsraum eine gute Ergänzung zum Klassenzimmer ist. Ich bin dennoch überzeugt, dass der Ruf nach „Digitalisierung“ nach der Corona-Krise nicht mehr verstummen wird. Dafür sprechen allein schon manifeste wirtschaftliche Interessen. Aber ob das dann wirklich dazu führt, dass wir mit dem Informationsraum die Handlungsmöglichkeiten der Menschen erweitern oder einfach nur mehr Technik in die Welt bringen, das steht in den Sternen. Ich bin überzeugt: Wenn wir den Umbruch in den Informationsraum über den Tag hinaus schaffen wollen, brauchen wir einen Paradigmenwechsel in der gesamten Gesellschaft – eine digitale Transformation für die Menschen.

Literaturhinweise

Boes, Andreas/Hacket, Anne/Kämpf, Tobias/Gül, Katrin (2006): Wer die digitale Spaltung beenden will, muss in der realen Gesellschaft anfangen. Das Internet stabilisiert und verstärkt die soziale Ungleichheit. In: Das Parlament. 17-18/2006, S.11.

Boes, Andreas/Preißler, Josef (2005): Digitale Spaltung. In: SOFI; IAB; ISF München; INIFES (Hrsg.): Berichterstattung zur sozioökonomischen Entwicklung in Deutschland – Arbeit und Lebensweisen. Erster Bericht. VS Verlag, Wiesbaden, S. 523-548.

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Boes, Andreas (2020): Corona-Krise: Digitale Transformation in der Bewährungsprobe. Online verfügbar unter https://idguzda.de/blog/corona-krise [02.04.2020].

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