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Die Wertschöpfung der Zukunft findet im Informationsraum statt

Beitrag von Andreas Boes, Institut für sozialwissenschaftliche Forschung e.V.
Mitarbeit: Jutta Witte

 

Die Wertschöpfung der Zukunft findet im Informationsraum statt – Überlegungen zum Umbau der Industrie in Deutschland

 

Hat Deutschland die Digitalisierung verschlafen? Vielerorts herrscht der Eindruck vor, dass Gesellschaft und Wirtschaft hierzulande sich nach wie vor schwertun im Umgang mit digitalen Innovationen und dem kulturellen Wandel, der damit einhergeht. Dass die Menschen hier in einer Art „German Angst 2.0“ verharren, wie es manchmal in der Presse heißt. Die Wirklichkeit allerdings ist komplizierter. Denn wir haben die Digitalisierung in Deutschland eigentlich nicht verschlafen. Wir haben sie einfach nicht richtig verstanden. Uns ist entgangen, dass die Digitalisierung mit dem Internet ihren Charakter grundlegend geändert hat. Deshalb glaubten wir in den letzten zwanzig Jahren an der Spitze der Bewegung zu stehen und waren in Wirklichkeit auf dem Holzweg.
Denn in Deutschland bedeutet Digitalisierung bis heute vor allem eines: Automatisierung, also Ersetzung von Menschen durch Technik, Kontrolle durch Algorithmen. Die Folge ist: Die Menschen reagieren verständlicherweise zurückhaltend bei dem Thema. Sie sind eben nicht scharf darauf, von Maschinen ersetzt und von Algorithmen kontrolliert zu werden. Dabei bietet die Digitalisierung ganz andere Chancen für die Menschen, wenn man sie richtig versteht und anpackt. Aus dem gleichen Grund hat die Politik es versäumt, die Infrastruktur für das Internet konsequent und zügig aufzubauen. Und die Unternehmen sind mit dem alten Denken im Gepäck regelrecht falsch abgebogen, als die Digitalisierung mit dem Internet Fahrt aufgenommen hat. Alle zusammen haben wir viel zu spät gemerkt, dass mit dem Internet seit den 1990er Jahren eine neue Zeit angebrochen ist.

 

Der Informationsraum: Neue Mitmachstruktur im Internet

Was kennzeichnet diesen historischen Umbruch? Der entscheidende Punkt ist: Das Internet ist nicht einfach programmierte Technik, sondern eine regelrechte Mitmach-Infrastruktur. Milliarden Menschen sind eingeladen, sich zu informieren, ihr Wissen zu teilen, sich zu vernetzen. So entsteht ein neuartiger sozialer Handlungsraum, in dem Menschen und Unternehmen über Daten und Informationen miteinander verbunden sind. Ich nenne ihn Informationsraum. Dass er wirklich existiert und welche Bedeutung er heute hat, hat uns der Corona-Lockdown eindrücklich vor Augen geführt.
Die Menschen haben diesen sozialen Handlungsraum gerade im Corona-Lockdown intuitiv verstanden und in einer Art Crashkurs gelernt, sich darin zu bewegen und gesellschaftlichen Zusammenhalt zu schaffen. Und auch in der deutschen Industrie setzt sich seit ein paar Jahren die Erkenntnis durch, dass mit dem Informationsraum eine neue Ökonomie entsteht und dass Unternehmen nicht nur schnell dazulernen, sondern sich auch grundlegend neu erfinden müssen, wenn sie künftig Wertschöpfung über den Informationsraum erfolgreich gestalten wollen.
Mit dem Informationsraum wird nämlich etwas möglich, was man als einen neuen „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (Habermas) verstehen kann. Es gibt ganz neue Chancen der Teilhabe an der Gesellschaft für die Menschen und die Organisationen. Diese Chancen müssen Unternehmen und Politik ergreifen.

 

Die Wirtschaft: Ringen um den Paradigmenwechsel

Die Frage ist berechtigt, ob diese Erkenntnis auch ins Bewusstsein der großen, etablierten Unternehmen hierzulande vorgedrungen ist – und wenn ja, wie sie auf die Herausforderung reagieren.
Denn in den letzten zwanzig Jahren konnte man wirklich Angst bekommen, dass der Transformationszug ohne die deutsche Wirtschaft abfährt. Seit ein paar Jahren keimt nun ein wenig Hoffnung auf. Dennoch ist es zu früh, um Entwarnung zu geben. Wenn man sich die Entwicklung im Detail anschaut, sieht man zwar, dass vereinzelte Vorreiter-Unternehmen aus der IT-Industrie die Zeichen der Zeit schon vor zehn Jahren erkannt haben und seitdem zum Beispiel Kompetenzen im Bereich von Cloud-Strategien aufgebaut haben, um neue Geschäftsmodelle im Informationsraum zu realisieren.
Bei den großen, traditionsreichen Industrieunternehmen hat sich dieser Lernprozess allerdings erst in den letzten Jahren durchgesetzt. In den letzten zwei bis drei Jahren wird er radikal beschleunigt und viele Industrieunternehmen haben wichtige Weichenstellungen vorgenommen. Dennoch ist die Sache für die deutsche Wirtschaft noch lange nicht durch. Denn Vorstandsbeschlüsse sind das eine, Veränderungen in der Praxis das andere. In den maßgeblichen Unternehmen erleben wir aktuell ein richtiggehendes Ringen um den einzuschlagenden Weg. Vertreter alter Geschäftsmodelle treten an gegen Protagonisten neuer Ideen. Hardware wird gegen Software ausgespielt, Bürokratie gegen Agilität. Man sieht vielerorts: Es fällt nach wie vor schwer, überhaupt zu realisieren, dass ein Paradigmenwechsel ansteht. Ihn umzusetzen ist noch ungleich schwieriger.

 

Die strategische Herausforderung: Umbruch in die Informationsökonomie

Gut 150 Jahre nach der Durchsetzung der industriellen Produktionsweise erleben wir also mit dem Internet einen historisch vergleichbaren Umbruch. Ihn zu bewältigen ist die strategische Herausforderung für die Zukunft der Wirtschaft. Warum fällt es so schwer, sie zu meistern? Weil sich im Informationsraum die Möglichkeiten radikal verändern, um Wertschöpfung zu generieren. Der Informationsraum und nicht das materielle Produkt ist der Ausgangspunkt für diejenigen, die heute schon Wertschöpfung neu denken. Die neuen Geschäftsmodelle, die in der Informationsökonomie entstehen, werden auf der Basis von Daten und Informationen entworfen und realisiert.
Unternehmen müssen die industrielle Produktionsweise radikal neu denken und mit Blick auf den Informationsraum in eine neue Produktionsweise umgestalten. Dazu brauchen sie eine neue Softwarekompetenz, eine andere Kultur und ein Denken in Ecosystemen auf Augenhöhe. Und genau an dem Punkt treffen sie einerseits auf Wettbewerber aus den USA, die das seit den 1990er Jahren gelernt haben. Und andererseits auf solche aus China, die mit einem gigantischen Programm der nachholenden Entwicklung in vielen Feldern in kürzester Zeit an die Spitze gelangt sind.

 

Die Wende: Digitalisierung und Klimaziele zusammendenken

Klar ist: Die Kernindustrien, in denen die deutsche Wirtschaft bislang stark war, müssen sich in Bewegung setzen und den dringend notwendigen Paradigmenwechsel forcieren. Dies schaffen sie nur, wenn sie die Stärken der industriellen Produktionsweise mit den Prinzipien der Informationsökonomie verknüpfen. Wichtig ist dabei vor allem, dass sich mit Blick auf den Informationsraum alle bewusst machen: Es geht um einen radikalen Richtungswechsel und nicht um ein paar inkrementelle Anpassungen im alten Pfad. Es ist ein Richtungswechsel, der zwei große Herausforderungen beinhaltet. Sie hängen sehr eng zusammen und lassen sich nur im Paket erfolgreich bewältigen. Ich meine die digitale Transformation und die Einhaltung der Pariser Klimaziele. Wenn es der deutschen Wirtschaft in den nächsten maximal fünf Jahren nicht gelingt, beides – Digitalisierung und Klimawandel – zusammenzudenken und eine radikale Wende einzuleiten, gerät sie in eine Abwärtsspirale. Das ist das wichtigste Learning der letzten Jahre.
Unternehmen und Politik sind gleichermaßen gefordert, hieraus die richtigen Zukunftsstrategien abzuleiten. Der Umbau der gesellschaftlichen Mobilität ist hierfür ein gutes Beispiel. Ohne diesen Umbau werden wir die Klimaziele nicht erreichen. Und um den Turnaround zu schaffen, müssen wir konsequent aus dem fossilen Entwicklungspfad heraus und die Mobilität der Gesellschaft mit Hilfe des Informationsraums grundlegend neugestalten und orchestrieren.
Deswegen kann auch der Austausch des Antriebsstrangs nur ein erster Schritt sein. Gerade in Europa kommt es vielmehr darauf an, die verschiedenen Verkehrsträger – Auto, Schiene, Fahrrad – zu einem systemischen Ganzen zusammenzufügen und kundenorientiert über den Informationsraum als System zu orchestrieren. Wir brauchen eine ganzheitliche Sicht auf Mobilität.

 

Stärken und Schwächen unter dem Brennglas: Autonomes Fahren

Kein Szenario für die Mobilität der Zukunft kommt ohne das hochautomatisierte und autonome Fahren aus. Und tatsächlich zeigt gerade dieser Punkt die Stärken und Schwächen der deutschen Industrie wie unter dem Brennglas.
Mit Blick auf Fahrerassistenzsysteme war die deutsche Industrie lange führend in der Welt. Doch diesen Vorsprung hat sie fast verspielt, weil sie den Informationsraum nicht verstanden hat. Als ich im Jahre 2015 mit meinem Forschungsteam im Silicon Valley war, deutete sich bereits an, dass Tech-Unternehmen wie Google oder Tesla das Thema mit einem anderen Ansatz angehen. Ihr Fokus lag schon damals auf den Daten. Mit massenhaft Realdaten haben sie lernende Systeme gefüttert. Weil sie das Auto konsequent als Objekt im Informationsraum realisierten, war ihre Lernkurve deutlich steiler als die der deutschen Unternehmen.
Wenn wir uns jetzt noch die chinesischen Wettbewerber anschauen, dann stellen wir fest, dass China noch einen Schritt weitergeht. Hier geht es darum, Fahrzeug und Umgebung als ganzheitliches Eco-System über den Informationsraum zu gestalten. In chinesischen Städten wird zum Beispiel viel Energie darauf verwandt, diese mit intelligenten Verkehrsleitsystemen auszustatten.
So steckt in den Systemen von Tesla zwar viel Technologie „made in Germany“. Und dies könnte uns vielleicht sogar helfen, wieder an die Spitze zu kommen. Aber wir können uns nicht allein auf die Technologie verlassen. Ob der Umbruch gelingt, hängt wesentlich davon ab, ob wir lernen, diese Technologien systematisch mit dem Informationsraum zu verknüpfen. Und da geht es dann um die Cloud, um Künstliche Intelligenz und um neue Datenkonzepte.
Das heißt: Die industrielle Produktionsweise ist ein Pfund. Aber das allein reicht nicht mehr. Die Industrie muss ihre alten Stärken verknüpfen mit einem neuen Verständnis davon, wie man Produkte, Geschäftsmodelle und Wertschöpfung über den Informationsraum auf der Basis von Daten und Informationen gestaltet.

 

Die Antwort: Soziale Frage entscheidet über Erfolg und Misserfolg

Und sie muss es schnell tun. Jetzt ist Dynamik gefragt. Dabei ist der aus meiner Sicht entscheidende Punkt, eine Antwort auf den historischen Produktivkraftsprung zu finden, der vom Informationsraum ausgeht. Also zu lernen, dass die Gesellschaft der Zukunft mit dem Informationsraum eine andere sein wird. Für die Wirtschaft ist das eine Chance, aber nur, wenn es gelingt, die Stärken im Bereich der industriellen Produktionsweise auf eine neue Grundlage zu stellen und einen Paradigmenwechsel zur Informationsökonomie zu vollziehen.
Das ist für mich auch der entscheidende Hebel, um den Durchbruch in Richtung auf ein postfossiles Zeitalter zu schaffen und Arbeit und Beschäftigung langfristig zu erhalten. In diesem Transformationsprozess wird die soziale Frage erfolgsentscheidend. Wenn wir eine so weitreichende Veränderung in der Gesellschaft schaffen wollen, müssen wir die Menschen mitnehmen, ja noch mehr: Die Menschen müssen Lust auf Zukunft haben, statt in Angststarre zu verharren, wenn sie dieses Transformationsprojekt aktiv tragen sollen. Ihre Teilnahme und Teilhabe wird gebraucht, um den großen Wandel zu schaffen – und das muss für sie erfahrbar und spürbar werden.
Dabei müssen wir besonders auf die Beschäftigten unterhalb des Hochschulniveaus achten und sie für dieses komplexe Gestaltungsprojekt gewinnen. Sie haben unsere Industrie seit ihren Anfängen wesentlich getragen. Wenn wir sie in der Transformation verlieren, fliegt uns die Gesellschaft um die Ohren.

 

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