Forschungsprofil

Mit der aktuellen Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft sind wir Zeitzeugen eines grundlegenden Umbruchs. Neben historisch gewachsenen Geschäftsmodellen, Marktstrukturen und Wertschöpfungsketten werden insbesondere auch Produktionsmodelle, Organisation der Arbeit sowie Arbeitsbeziehungen von diesem Umbruch ergriffen und müssen unter den Voraussetzungen der Digitalisierung neu gedacht werden.

Im Team um Prof. Dr. Andreas Boes erforschen wir seit rund 25 Jahren die Veränderungen der Arbeitswelt, ihre Hintergründe und ihre Implikationen für die Zukunft der Arbeit. Wir beschäftigen uns aus einer sozialwissenschaftlichen Forschungsperspektive mit der Gestaltung von Informations- und Kommunikationstechnologien und deren Folgen für Arbeit und Gesellschaft.

Unser Ansatz fußt auf der Grundlagentheorie zur Informatisierung der Gesellschaft. In einem langen historischen Prozess der Verwendung von Informationen und Informationssystemen ist mit der Digitalisierung ein Entwicklungsstadium erreicht, in dem die Welt der Informationen prägende Bedeutung für die Organisation der gesellschaftlichen Arbeit und die Gesellschaft insgesamt hat. Seit den 1990er Jahren hat sich die Welt der Informationen zu einem global verfügbaren Informationsraum und zu einer neuartigen sozialen Handlungsebene entwickelt, über die unterschiedlichste Formen des sozialen Handelns stattfinden.

Dabei ist entscheidend, dass mit dem Aufstieg des Internets nicht einfach eine gigantische digitale Bibliothek oder ein schneller Daten-Highway entstanden ist, sondern ein neuer sozialer Handlungsraum. Menschen können hier nicht nur Informationen bearbeiten und austauschen, sondern in vielfältigster Form interagieren. Dieser soziale Raum ist nicht vorprogrammiert, sondern er verändert seine Struktur und die in ihr bestehenden Handlungsmöglichkeiten durch das praktische Tun der Nutzer. Er ist also nicht einfach nur „Technik“ oder ein Medium zum Transport digitaler Informationen, sondern eine lebendige globale Informations- und Kommunikationsumgebung. Weil so geistige Tätigkeiten in neuer Qualität aneinander anschlussfähig werden, entsteht ein neues Potenzial der Nutzung geistiger Produktivkraft.

Derzeit birgt der Informationsraum das Potenzial für zwei gegenläufige Entwicklungsrichtungen. Einerseits eröffnen sich über ihn neue Formen der Beteiligung an Unternehmensentscheidungen und der aktiven Gestaltung der Arbeit, die für ein Empowerment der Beschäftigten und eine Demokratisierung der Arbeitswelt genutzt werden könnten. Andererseits ermöglicht der Informationsraum aber auch, Wissensarbeit in getakteten Wertschöpfungsketten nach Art eines digitalen Fließbandes zu organisieren und die Arbeitsleistung eines jeden Beschäftigten in Echtzeit exakt zu erfassen.

Ein solches Kontroll-Panoptikum der Daten würde bei den Beschäftigten zu steigenden Belastungen führen und das Risiko für psychische Erkrankungen und Burnout erhöhen. Weil er zudem orts- und zeitunabhängiges Arbeiten in steigendem Maße ermöglicht, macht der Informationsraum die Unternehmensgrenzen durchlässig. Dadurch entstehen neue global integrierte Produktionsmodelle wie Cloudworking und Crowdsourcing.

Aber auch die räumlichen Grenzen zwischen Arbeits- und Privatleben werden tendenziell aufgelöst. In beiden Entwicklungen liegen einerseits neue Chancen etwa zur Steigerung der Produktivität oder zur Stärkung der Zeitsouveränität der Beschäftigten. Andererseits drohen jedoch auch neue Konkurrenzsituationen sowie neue Verfügbarkeitserwartungen und damit eine zunehmende „Entgrenzung“ von Arbeit. Entlang dieser Scheidelinie bewegt sich die Gestaltung von Arbeit in der digitalen Ära.

Mit unserem Forschungsprogramm hinterfragen wir die mit dem Entstehen des Informationsraums verbundenen Umbrüche in Arbeit und Gesellschaft und analysieren ihre Mechanismen sowie die konkreten Auswirkungen auf Produktion und Arbeitswelt. Basierend auf unseren Forschungsprojekten entwickeln wir Gestaltungskonzepte, mit denen wir dazu beitragen wollen, dass die Potenziale der Digitalisierung im Sinne einer neuen Humanisierung der Arbeitswelt und einer Steigerung der gesellschaftlichen Wohlfahrt nachhaltig genutzt werden.

Dieses allgemeine Forschungsprogramm realisieren wir aktuell in den Forschungsbereichen „Informatisierung und Industrialisierung“, „Neue Phase der Globalisierung“, „Subjekt und Belastung“ und „Frauen in der digitalen Arbeitswelt“. Die Erkenntnisse aus den Forschungsprojekten zu diesen Schwerpunktthemen reflektieren wir permanent mit Blick auf die Weiterentwicklung der Grundlagentheorie zur Informatisierung der Gesellschaft. Auf diese Weise wollen wir sicherstellen, dass unser Ansatz zur Erforschung der Zukunft von Arbeit nicht erstarrt, sondern lebendig bleibt und mit der realen Entwicklung Schritt hält.


Informatisierung und Industrialisierung

In modernen Unternehmen zeichnet sich ein „neuer Typ der Industrialisierung“ ab. Während die Maschinensysteme der „großen Industrie“ die Industrialisierung alten Typs begründeten, bildet der Informationsraum die Basis dafür, die Ideen der Industrialisierung in einer neuen Qualität zu realisieren. Der auf der Grundlage des Internets entstehende Informationsraum ermöglicht als neue weltgesellschaftliche Handlungsebene, menschliche Tätigkeiten in neuer Qualität aneinander anschlussfähig zu machen und objektive Informationen über ihre Arbeitsprozesse zu sammeln. Unter diesen Voraussetzungen unterliegen nicht nur die Fertigungsbereiche mit Konzepten wie „Industrie 4.0“ und dem „Internet der Dinge“ einer strategischen Neugestaltung. Neben der Reorganisation von Verwaltungstätigkeiten und Dienstleistungen als „shared services“ wird zunehmend auch hochqualifizierte Wissensarbeit in synchronisierte und getaktete Wertschöpfungsketten eingebettet. Mit der Einführung von „Factory-Konzepten“, „Lean Development“ und agilen Methoden wie „scrum“ wird somit auch die Welt der Büros zum Gegenstand von Industrialisierungsprozessen.

Diese Entwicklung hat weitreichende Konsequenzen insbesondere für die Arbeit wissenschaftlich-technischer Experten: Standardisierung und Prozessorientierung machen Arbeitsabläufe transparenter und dadurch wiederhol- und planbar; Experten sollen ihr Wissen teilen und in Teams arbeiten, die sich statt in bürokratischen Projektplänen in kurzzyklischen ergebnisorientierten Sprints selbst organisieren; Führungskräfte definieren sich neu und übernehmen die Rolle von Coaches. Dass ihre Arbeit jetzt öffentlich und ihr Wissen „kollektiviert“ werden soll, erleben dabei zum Beispiel Jüngere durchaus als Chance. Für ihre älteren Kollegen kann dies aber auch die Entwertung der persönlichen Leistung bedeuten.

Mit Blick auf die zukünftige Entwicklung neuer Formen der Industrialisierung sehen wir widersprüchliche Entwicklungstendenzen: Einerseits könnte das neue Produktionsmodell Wegbereiter einer neuen Qualität der Nutzung geistiger Produktivkraft werden, andererseits ein Synonym für ein „digitales Fließband“ und neue Formen der Kontrolle „austauschbarer“ Wissensarbeit. Entscheidend wird sein, Konzepte zu entwickeln, die über Nachhaltigkeit und „Empowerment“ der Beschäftigten eine neue Humanisierung der Arbeit in den Blick nehmen.


Neue Phase der Globalisierung

Wir erleben gegenwärtig eine neue Phase der Globalisierung. Der globale Informationsraum legt die Grundlage dafür, dass in strategischen Kernbereichen der Wirtschaft Produkte und Dienstleistungen in neuer Qualität in weltweit vernetzen Wertschöpfungsketten erbracht werden können. Das „Offshoring“ hochqualifizierter Tätigkeiten ist die Folge. Gleichzeitig müssen Unternehmen künftig selbst ihre Innovationsprozesse in einem globalen Netzwerk von Kunden, Zulieferern und Kooperationspartnern gestalten. „Open Innovation“ ist eine Antwort auf diese Herausforderung.

In der IT-Branche ist die Globalisierung besonders weit fortgeschritten. IT-Unternehmen sind zugleich Schrittmacher und Triebkraft der weltweiten Vernetzung. Viele von ihnen sind bereits auf dem Weg in eine global vernetzte Ökonomie: Sie bewegen sich weg vom „Offshoring“ im Sinne von billigeren „verlängerten Werkbänken“ und entwickeln sich zu global integrierten, aus einem Guss agierenden Organisationen. Statt den Fokus einseitig auf Kostensenkung und Verlagerungen zu richten, treiben diese Vorreiter-Unternehmen ganzheitliche Strategien voran.

Damit öffnen sich auch neue Wege, um die globalisierte Wirtschaft nachhaltig zu gestalten. Zentraler Erfolgsfaktor ist dabei, die Menschen mitzunehmen und die Beschäftigten in das Zentrum globaler Produktions- und Geschäftsmodelle zu stellen. Wenn jedoch in Zukunft innovative Formen des „Cloudworking“, „Crowdsourcings“ oder „Working in the open“ alleine dazu genutzt werden, die mit dem „Offshoring“ der alten Schule verbundenen Bedrohungsszenarien zu revitalisieren, droht ein Rückfall in veraltete Muster. Angesichts dieser Chancen und Risiken gilt es, die Entwicklung nachhaltiger Gestaltungskonzepte für eine global vernetzte Ökonomie weiter voranzutreiben.


Subjekt und Belastung

Die Anforderungen an den Menschen in der modernen Arbeitswelt haben sich grundlegend verändert. Stand lange Zeit vor allem die physische Belastung im Vordergrund, so rückt nun vermehrt die psychische Belastung der Menschen in den Mittelpunkt. In der Vergangenheit wurden die Menschen in ihrer Rolle als Subjekt zudem zumeist als Störfaktoren für den Produktionsprozess betrachtet, die zu kontrollieren waren. In modernen Unternehmen sollen sich Mitarbeiter aktiv beteiligen, sich immer wieder dazu verpflichten, eine Aufgabe eigenverantwortlich bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zu erledigen, sich in kollektive Lernprozesse einbringen, sich selbstbewusst positionieren sowie ihre Ziele aktiv vertreten und voran treiben. Gleichzeitig führen wachsender Kostendruck durch die Intensivierung des internationalen Wettbewerbs, die Durchsetzung von Standards und rigider Prozessorientierung sowie neue Möglichkeiten zur Steuerung und Kontrolle von Leistung zu einer „Zeitenwende“ in weiten Bereichen der Wissensarbeit. Beschäftigte bekommen immer mehr das Gefühl, austauschbar zu sein. Verschiebungen in den Anerkennungsordnungen der Unternehmen – einst besonders wertgeschätzte Experten werden plötzlich als gewöhnliche Arbeitnehmer behandelt –, neue Unsicherheiten und ein Verlust an Zukunftsgewissheit auch in hochqualifizierten Bereichen sind die Folge.

Damit entstehen neue Belastungen und gesundheitliche Risiken für die Beschäftigten. Der Bereich der Wissensarbeit avanciert gegenwärtig zur „Risikozone“ für stressbedingte Krankheiten. Dies äußert sich in einem sprunghaften Anstieg psychischer Belastungen und Fällen von „burn-out“. Um dieser Dynamik begegnen zu können, ist ein ganzheitlicher Blick auf die Entwicklung der Belastungssituation in der digitalen Arbeitswelt notwendig. Es geht um die Entwicklung nachhaltiger Gestaltungsstrategien zur Gesundheitsprävention, die nicht lediglich die Symptome behandeln, sondern die Analyse der Ursachen und Hintergründe zunehmender psychischer Belastung zur Grundlage neuer Konzepte machen.


Frauen in der digitalen Arbeitswelt

Mit der digitalen Revolution erleben die Unternehmen einen tiefgreifenden Wandel. Nicht nur ihre Geschäftsmodelle sowie ihre Produktions- und Arbeitskonzepte geraten im Zuge der Transformation auf den Prüfstand. Auch die Arbeitswelt insgesamt verändert sich grundlegend.

In dieser Umbruchsituation öffnet sich ein Möglichkeitsraum, in dem die Weichen für die Entwicklungs- und Karrieremöglichkeiten von Frauen neu gestellt werden können. Dies geschieht jedoch nicht im Selbstlauf, sondern erfordert eine wirksame Gestaltung. Denn mit der Entwicklung der digitalen Arbeitswelt stehen Chancen und Risiken für Frauen eng beieinander. Die Digitalisierung stellt Unternehmen vor die Herausforderung, sich in global vernetzten Wertschöpfungsstrukturen zu positionieren sowie disruptiven Umbrüchen von Märkten und Wettbewerbsstrukturen zu begegnen. Gefordert ist ein Denken in neuen Paradigmen und eine hohe Fähigkeit, sich zeitnah an neue Entwicklungen anzupassen.

Um sich hierfür zu wappnen, streben immer mehr Unternehmen danach, „agile Organisationen“ zu werden. Deren wichtigste Pfeiler sind konsequente Kundenorientierung sowie die systemische Vernetzung und Selbstorganisation der Beschäftigten. Dies stellt Beschäftigte und Führungskräfte dabei vor neue Herausforderungen. Neue Formen von Kommunikation, Partizipation und Zusammenarbeit entstehen, die andere soziale und integrative Kompetenzen erfordern. Der Charakter von Arbeit verändert sich auch in technischen Feldern. Darüber hinaus wird Führung neu definiert und Karrierewege werden neu gestaltet. Diese Entwicklungen können Frauen neue Handlungsspielräume eröffnen.

Neue Risiken für Frauen könnten allerdings insbesondere mit Blick auf die Beschäftigungseffekte der Digitalisierung entstehen. So besteht die Gefahr, dass der von Experten prognostizierte „Tsunami auf dem Arbeitsmarkt“ auch Tätigkeiten mit hohen Frauenanteilen trifft und damit die Beschäftigungsmöglichkeiten von Frauen in der digitalen Arbeitswelt dramatisch zurückgehen.

Mit der „Entgrenzung von Arbeit“ durch mobile Endgeräte sowie neuen Formen des global verteilten und mobilen Arbeitens, wie „Cloudworking“ oder „Home Office“, bilden sich zwar neue Möglichkeiten für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und eine neue Zeitsouveränität. Allerdings besteht auch die Gefahr, dass eine neue „Unkultur der permanenten Verfügbarkeit“ weiter um sich greift. In dieser Dichotomie von neuen Möglichkeiten und neuen Hindernissen gilt es, Gestaltungskonzepte zu entwickeln, die zu einer nachhaltigen Modernisierung der Unternehmen beitragen – eine der wesentlichen Grundlagen für die Förderung von Frauen in der digitalen Arbeitswelt.

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