Umbruch in der Industrie: Game-Changer Tesla als Chance nutzen
Beitrag von Andreas Boes, Institut für sozialwissenschaftliche Forschung e.V.
Mitarbeit: Jutta Witte
Vorab: Ein Blick nach Brandenburg
Nevada, New York, Shanghai und jetzt Grünheide: In der brandenburgischen Provinz entsteht gerade die vierte „Gigafabrik“ von Tesla. Elektrofahrzeuge und Batterien sollen hier für den europäischen Markt produziert werden. 500.000 E-Autos pro Jahr sollen ab Juli 2021 in der ersten Ausbauphase vom Band rollen, rund 12.000 Arbeitsplätze entstehen. Elon Musk verliert keine Zeit.
Und seit der Tesla-Chef im November 2019 die Expansion in Richtung Europa angekündigt hat, blicken die deutschen Automobilhersteller und eine immer größere werdende Öffentlichkeit gleichzeitig verängstigt und fasziniert auf das US-amerikanische Großprojekt in der 8000-Seelen-Gemeinde. Denn es macht wie unter einem Brennglas deutlich: Der Veränderungsdruck, unter dem die deutsche Industrie gegenwärtig steht, ist riesig.
Die Industrie als Herzstück unseres Produktionsmodells muss sich grundlegend transformieren – eine Transformation mit weitreichenden Implikationen für unsere Gesellschaft insgesamt.
Tesla macht vor, wie man Autos in der Informationsökonomie entwickeln und fertigen kann. Und ich schlage vor, dass wir Tesla ernst nehmen und – mehr als das – die Ansiedlung des Unternehmens als Chance begreifen, um einen Einstieg in eine nachhaltige Produktionsweise der Industrie insgesamt zu schaffen.
Diese Vorschläge möchte ich anhand von vier Thesen zur Diskussion stellen:
- Die Ansiedlung von Tesla wird zum Game-Changer.
- Tesla ist der Vorbote einer neuen Produktionsweise.
- Die Automobilindustrie ist ein strategisches Lernfeld.
- Es gibt Optionen für Zukunftsstrategien.
These 1: Die Ansiedlung von Tesla wird zum Game-Changer
Die Ansiedlung von Tesla in Brandenburg wird zum Game-Changer für die industrielle Produktionsweise in Deutschland werden. In den nächsten zehn Jahren entscheidet sich, ob es gelingt, die Weichen richtig zu stellen, um eine Antwort auf diese Herausforderung zu finden.
Während sich die deutsche Automobilindustrie mit Dieselskandalen, Softwareproblemen und Werksschließungen herumschlägt, scheint Tesla die Zukunft der Mobilität und der Automobilindustrie zu verkörpern. Ich glaube, in zehn oder fünfzehn Jahren werden wir rückblickend sagen: Tesla war der Game-Changer für die Automobilindustrie und darüber hinaus für die industrielle Produktionsweise insgesamt.
Denn Tesla legt den Finger in die Wunde. Die Innovations- und Schlagkraft dieses Unternehmens, das wie ein Start-up gemanagt wird, macht offensichtlich, dass die deutsche Automobilindustrie ihre Hausaufgaben in den letzten Jahrzehnten nicht gemacht hat, und sie zeigt, wo akuter Handlungsbedarf besteht.
Vier große Fragen, die schnell beantwortet werden sollten, stehen mit Blick auf die Innovationsfähigkeit der deutschen Automobilindustrie im Raum:
- Wie sieht es aus mit der ökologischen Wende im Mobilitätssektor?
- Wie sieht es aus mit der Softwarekompetenz und der Fähigkeit, das Auto und die Mobilität insgesamt von der Software her zu denken?
- Wie sieht es aus mit neuen Geschäftsmodellen im Internet? Mit der Fähigkeit, aus Daten permanente Innovationen zu machen und Mobilität unabhängig von den Verkehrsträgern ganzheitlich über den Informationsraum zu orchestrieren?
- Und: Wie sieht es aus mit Tarifverträgen und dem deutschen Modell von Mitbestimmung und Sozialpartnerschaft?
These 2: Tesla ist der Vorbote einer neuen Produktionsweise
Tesla ist der Vorbote einer neuen Produktionsweise. Tesla ist erfolgreich, weil es die Prinzipien und Kompetenzen der Informationsökonomie als einer neuen Produktionsweise erfolgreich auf die Industrie überträgt und so einen Paradigmenwechsel realisiert.
Tesla ist nicht einfach ein neuer Wettbewerber mit einer guten Story, viel heißer Luft und ein bisschen technischem Schnickschnack. Tesla ist ein Wettbewerber wie von einem anderen Stern! Ein Vorbote einer neuen Produktionsweise. Ich würde sagen: Tesla ist der erste Automobilbauer in der Informationsökonomie.
Dieses Unternehmen ist so erfolgreich, weil es in der Lage ist, industrielle Produktion nach den Prinzipien der Informationsökonomie zu betreiben, also die Daten, die Menschen im Informationsraum zu nützlichen Informationen veredeln, über KI- und Cloudlösungen in Echtzeit zu nutzen mit dem Ziel, nicht nur Produkte im laufenden Betrieb zu optimieren, sondern auch fortlaufend Innovationen zu betreiben. Damit baut Tesla Autos nach den gleichen Prinzipien, wie Google das Internet nutzbar macht, Amazon seinen Marketplace betreibt, Netflix die Filmindustrie aufrollt oder Salesforce Software-as-a-Service liefert. Das heißt,
Tesla überträgt die Prinzipien der Informationsökonomie auf die Paradedisziplin der industriellen Produktionsweise: die Automobilindustrie.
Damit vollzieht das Unternehmen einen Paradigmenwechsel im Herzen der deutschen Industrie.
These 3: Die Automobilindustrie ist ein strategisches Lernfeld
Für den „Brückenschlag“ der Informationsökonomie in die industriellen Kerne ist die Automobilindustrie der Prototyp. Hier findet das Ringen um den Paradigmenwechsel im Moment statt. Die Automobilindustrie ist daher das Lernfeld für die Entwicklung der Zukunftsstrategien für die deutsche Industrie insgesamt.
Die Automobilindustrie setzt das alte Paradigma der „großen Industrie“ in idealtypischer Form generalstabsmäßig um. So hat sich eine Branche mit sehr hohen Markteintrittsschwellen herausgebildet. Dies verändert sich seit ein paar Jahren allerdings. Ich prognostiziere, dass wir sie in zehn Jahren nicht mehr wiedererkennen werden.
Denn diese Branche wird gerade zum strategischen Angriffspunkt, an dem die Vorreiter der Informationsökonomie den Beweis antreten, dass die von ihnen entwickelten Prinzipien des neuen Paradigmas den Prinzipien des alten überlegen sind. Wir können jetzt versuchen, das alte Paradigma so lange zu retten wie möglich. Wir können mit den Füßen aufstampfen und sagen: „Wir sind Autobauer!“ „Wir haben ein funktionierendes Geschäftsmodell!“ „Wir sind Export-Weltmeister!“ Oder aber wir können uns darauf konzentrieren, die absehbare Zukunft des Mobilitätssektors vorausschauend zu gestalten.
Angesichts der noch größeren Umwälzungen, die uns über die Automobilindustrie hinaus bevorstehen, bin ich dafür, dass wir die vorhandene Kompetenz und die Substanz nutzen und die Automobilindustrie als strategisches Lernfeld für die Umgestaltung der Industrie in Richtung auf eine neue Produktionsweise begreifen.
These 4: Es gibt Optionen für Zukunftsstrategien
Die strategische Herausforderung für die deutsche Automobilindustrie besteht darin, die alten Stärken im Automobilbau mit den neuen Kompetenzen der Informationsökonomie zu verknüpfen. Nur so eröffnen sich Optionen, um Zukunftsstrategien in Richtung einer nachhaltigen Mobilität und moderner Fertigungskapazitäten zu entwickeln.
Unsere Forschungen zum Umbruch in der Automobilindustrie zeigen: Nur Autobauer zu bleiben, ist wie auf der Eisscholle in die Südsee zu schwimmen. Das Eis wird immer weniger und immer brüchiger. Aber die Automobilindustrie muss nicht zwangsläufig untergehen. Für mich zeichnen sich zwei Zukunftsstrategien für eine Neuorientierung der Branche ab, die dies verhindern könnten.
Der Königsweg wäre, dass wir die Automobilindustrie zu einem wichtigen Partner eines integrierten gesellschaftlichen Mobilitätskonzepts entwickeln. In diesem Fall würden die einzelnen Verkehrsträger, orchestriert über den Informationsraum, als Teile eines Ganzen ineinandergreifen. So könnte man eine nachhaltige Form von Mobilität realisieren, die optimal auf die Bedürfnisse der Kunden eingeht, also eine Mobilitätswelt aufbauen, in der das Auto nicht mehr der Dreh- und Angelpunkt wäre, sondern ein entscheidendes strategisches Moment.
Um dies zu erreichen, ist es hilfreich, beim Thema „Kontraktfertigung“ nicht die Nase zu rümpfen, sondern sich diesen Weg einmal ohne Scheuklappen anzusehen. Moderne Kontraktfertiger wie Foxconn machen vor, dass eine effiziente Fertigung nicht aus Blechbiegen besteht, sondern im Ideal auf der Fähigkeit beruht, jedes Produkt mit Losgröße eins fertigen zu können. Daher basiert diese Strategie ebenso wie die gesellschaftliche Mobilitätsplattform auf den Kompetenzen der Informationsökonomie. Kurz gesagt:
Wir sollten die Autobauer in „Tech-Unternehmen“ transformieren, die ihre klassischen Stärken mit den neuen Kompetenzen der Informationsökonomie verknüpfen und Teil eines größeren Mobilitätskonzeptes werden.
Ausblick: Es ist Zeit für eine nachhaltige Produktionsweise
Es ist also Zeit für eine neue, nachhaltige Produktionsweise. Die Art und Weise, wie unsere Industrie produziert, hat allerdings nicht nur Auswirkungen auf die Ökonomie, sondern beeinflusst auch entscheidend, wie wir in Zukunft arbeiten werden, unseren sozialen Zusammenhalt organisieren und unserer ökologischen Verantwortung nachkommen. Angesichts solcher Implikationen, die uns als Gesamtgesellschaft betreffen, können wir die unumgängliche Transformation hin zu einer nachhaltigeren Produktionsweise nur schaffen, wenn wir die Menschen mitnehmen. Nur wenn es uns gelingt, die Menschen zu Gestaltenden der Zukunft der Gesellschaft zu machen, kann die Herausforderung des historischen Umbruchs, in dem wir gegenwärtig stehen, auch im Sinne der Menschen erfolgreich bewältigt werden.
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Boes, Andreas (2021): Umbruch in der Industrie: Game-Changer Tesla als Chance nutzen. Online verfügbar unter https://idguzda.de/blog/umbruch-in-der-industrie/ [03.02.2021].
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