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It’s the internet, stupid

Ideen zur Neuausrichtung der Berufsbildung in der digitalen Transformation

Beitrag von Andreas Boes, Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V.

Kürzlich hatte ich die Ehre in der Projektgruppe 1 der Enquetekommission des Deutschen Bundestags „Berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt“ zum Thema Digitalisierung und deren Bedeutung für die berufliche Bildung vorzutragen. In diesem Blog fasse ich meine Überlegungen zur Strategiebildung in der Berufsbildung zusammen.

Ich folge anfangs dem populären Diskurs um die Digitalisierung und dem Ansinnen, mit Blick auf diese Entwicklung einen Beitrag zur zukunftsorientierten Ausrichtung der beruflichen Bildung zu machen. Im weiteren Verlauf der Argumentation zeige ich dann aber, dass wir mit Blick auf diesen populären Begriff bei der Strategiebildung geradezu auf den Holzweg geraten. Ich zeige, dass wir uns in der deutschen Debatte mit dem Begriff der Digitalisierung geradezu absichtsvoll verwirren. Denn wir haben das Internet verschlafen und sind folglich auch nicht wirklich strategiefähig. Diesen Gedanken zu Ende denkend lande ich bei der Forderung, den Paradigmenwechsel zur Informationsökonomie zum konzeptionellen Bezugspunkt für die Neuausrichtung der beruflichen Bildung zu machen.

 

1    Digitalisierung

Seit gut 30 Jahren befasse ich mich mit dem, was heute Digitalisierung genannt wird. Das nannte man damals noch Elektronische Datenverarbeitung, kurz EDV.​ Und später dann Computer, CNC-Maschine, Personalcomputer und rechnerintegrierte Fabrik oder CIM. In diesem Zeitraum war die Forschung im deutschsprachigen Raum zu dem Thema, gelinde gesagt, überschaubar und meist auf konkrete technische Entwicklungen beschränkt. Der Begriff „Digitalisierung“ selbst spielte übrigens bis vor ein paar Jahren überhaupt keine große Rolle. Heute ist das anders. Digitalisierung ist seit einigen Jahren in aller Munde. Es ist also naheliegend, dass die Politik darüber nachdenkt, was diese Entwicklung für die berufliche Bildung bedeutet. In der Praxis seiner Verwendung unterscheidet man bezüglich des Begriffs der Digitalisierung aktuell eine enge, meist technische oder nachrichtentheoretische Fassung, und eine weite Fassung. ​

Ein Beispiel für eine enge Fassung habe ich der Online-Enzyklopädie der Wirtschaftsinformatik entnommen. Die Definition stammt von meinem bidt-Kollegen Thomas Hess. Er schreibt:

„Der Begriff Digitalisierung kann auf unterschiedliche Art und Weise interpretiert werden. Traditionell ist die technische Interpretation. Danach bezeichnet Digitalisierung einerseits die Überführung von Informationen von einer analogen in eine digitale Speicherform und andererseits thematisiert sie die Übertragung von Aufgaben, die bisher vom Menschen übernommen wurden, auf den Computer.“ ​ (Hess 2019)

In der Praxis des deutschen Diskurses erhält diese einfach technische Definition zumeist eine Erweiterung und wird in einem übertragenen Sinne verwendet. Deshalb schließt Thomas Hess auch ergänzend an: 

 

„Heute wird Digitalisierung häufig – etwas breiter – mit der Einführung digitaler Technologien in Unternehmen und als Treiber der digitalen Transformation gleichgesetzt.“ (Hess 2019)​

Dieses erweiterte Begriffsverständnis des Begriffs Digitalisierung ist im aktuellen Diskurs bestimmend. Die meisten Kolleginnen und Kollegen sprechen von der Digitalisierung im Sinne eines grundlegenden Veränderungsprozesses, der alle wesentlichen Dimensionen einer Gesellschaft, also Wirtschaft, Politik, Bildung oder Lebensweise tiefgreifend verändert. Dementsprechend wird der Begriff meist synomym zum zutreffenderen Begriff der digitalen Transformation verwendet. ​

Wir halten fest: Der Begriff „Digitalisierung“ transportiert auf den ersten Blick zwei Inhalte. Erstens, es geht um die Überführung von analogen Tatbeständen in eine digitale Form, um sie mit digitalen Technologien bearbeiten zu können. Dieser Prozess bewirkt zweitens einen tiefgreifenden Umwälzungsprozess in der Gesellschaft. ​

Meiner Erfahrung nach wirkt der Begriff häufig wie eine Nebelkerze im Diskurs und führt oft zu einer babylonischen Sprachverwirrung. Das hat damit zu tun, dass zwischen einer engen technischen Verwendung und dem breiten Verständnis hin und her gesprungen wird. Vor allem aber resultiert die Sprachverwirrung daraus, dass der Begriff sehr unterschiedlich konnotiert ist und damit sehr Unterschiedliches meint. 

 

2    Digitalisierung – 2 Lesearten

Ein paar Bilder veranschaulichen die zwei dominanten Lesarten des Begriffs Digitalisierung sehr schön. ​

Gängig in der deutschen Öffentlichkeit sind folgende Bilder. Wenn wir über Digitalisierung sprechen, dann denken wir an Roboter und an vollautomatisierte computergesteuerte Maschinensysteme. ​

Bild 1: Bildsprachliche Übersetzungen von Digitalisierung

Die zweite Lesart des Begriffs der Digitalisierung spiegelt sich demgegenüber in diesen Bildern wider. ​

Bild 2: Alternative bildsprachliche Übersetzung von Digitalisierung

Hier arbeiten Menschen zusammen, sie informieren sich, nutzen die Informations- und Kommunikationstechnologien, um zu kommunizieren und zu kooperieren.

Hinter diesen Bildern steckt ein je eigenes Verständnis des Begriffs der Digitalisierung, das sich historisch herausgebildet hat und selten expliziert wird. 

Die beiden dominanten Konnotationen des Begriffs zentrieren um die Begriffe Maschine und Werkzeug.​

Bild 3: Alternative Konnotationen von Digitalisierung

Sehr häufig wird die zunehmende Digitalisierung im Konzept der Maschine interpretiert. Hier geht es dann vor allem um die Vernetzung von programmierten Systemen. Maschine und Mensch stehen in einem dualistischen Verhältnis, denn die Maschine ist dazu da, Tätigkeiten des Menschen aus­zuführen und zu ersetzen.

Aus dieser Perspektive spricht man über Künstliche Intelligenz als einer Intelligenz, die die des Menschen simuliert und ersetzbar machen soll. Der Schlüsselbegriff dieser Lesart ist die Automatisierung. Digitalisierung ist gleich Automatisierung.

Und das häufig kolportierte Zukunftsszenario dieser Perspektive ist die Technische Singularität, der Punkt in der Geschichte, an dem die Maschinen schneller lernen als die Menschen. ​

Diese Sicht liegt den meisten Prognosen zur Entwicklung des Arbeitsmarktes zugrunde. Wenn beispielsweise Frey und Osborne prognostizieren, dass durch die Digitalisierung 47 Prozent der Jobs in den USA drohen ersetzt zu werden, rekurrieren sie unreflektiert mit ihrem Modell auf dieses Begriffsverständnis. ​

Ein deutlich anderes Verständnis des Begriffs hat sich mit der Durchsetzung der Personalcomputer (PC) seit Ende der 1970er Jahre herausgebildet. Hier wird die Computertechnologie als Werkzeug interpretiert. Der Fokus ihrer Verwendung ist die Steigerung der Fähigkeiten des Menschen. Es geht also um seine Unterstützung durch Informationen und Kommunikationsmöglichkeiten.

Dieser Ansatz hat mittlerweile auch zu einer anderen Lesart der Künstlichen Intelligenz geführt. Hier steht das A nicht für Artificial, sondern für Augmented im Sinne einer unterstützenden Intelligenz. Der Schlüsselbegriff dieses Verständnisses ist Information. Und das dahinter liegende Zukunftsszenario ist die Emanzipation des Menschen. ​

Diese zweite Lesart spielt in der öffentlichen Debatte in Deutschland eine marginale Rolle. In den einschlägigen Studien zu den Arbeitsmarkteffekten kommt sie überhaupt nicht vor. ​

Das ist ein grundsätzliches Problem des Diskurses um die Digitalisierung. Denn die häufig unterstellte Skepsis der Menschen ist in der Interpretation der Digitalisierung in der Maschinenperspektive geradezu angelegt. Wenn man kolportiert, Digitalisierung heißt, dass Maschinen Menschen überwachen, über ihr Leben entscheiden oder überflüssig machen, muss man sich nicht wundern, dass Menschen keine Lust auf Digitalisierung haben.

 

3    Warum sprechen plötzlich alle von Digitalisierung?

Bis dahin ging es darum, zu klären: Was bedeutet Digitalisierung? Viel wichtiger ist aber: Warum sprechen wir neuerdings so viel von Digitalisierung? Computer gibt es seit den 1950er Jahren im kommerziellen Gebrauch. Aber erst seit einigen Jahren nehmen wir das Thema richtig ernst. Das schlägt sich dann im inflationären Gebrauch des Begriffs nieder. Warum ist das so? Die Beantwortung dieser Frage gibt Aufschluss darüber, warum dieser Begriff wie eine Nebelkerze im öffentlichen Diskurs wirkt.

Ich hatte eingangs erwähnt, dass ich mich seit mehr als 30 Jahren mit dem Thema befasse. Wenn ich nun meine Erinnerungen zur öffentlichen Diskussion um die Digitalisierung Revue passieren lasse und eine Kurve der „Gefühlten Digitalisierung“ in Deutschland zeichnen sollte, so sähe die so aus: Seit den 1950er Jahren passiert nicht viel und meist hinter verschlossenen Türen. Das geht bis ca. 2013 so. Und dann plötzlich schießt die Aufmerksamkeit für das Phänomen steil nach oben und alle sprechen von DER Digitalisierung als sei plötzlich der Messias erschienen. ​

Bild 4: Gefühlte Digitalisierung in Deutschland

Ich habe diesen subjektiven Eindruck ein­mal nachrecherchiert, um zu prüfen, dass mich die Erinnerung nicht täuscht.

Google Trends weist bei den weltweit ausgeführten Suchen für das Thema Digitalisierung eine nahezu gleich­bleibende Häufigkeit zwischen 2004 und heute aus. Demgegenüber verläuft die Kurve in Deutschland bis 2013 sehr niedrig und schießt dann hoch.

Bild 5: Häufigkeit der Verwendung des Begriffs „Digitalisierung“ im Deutschen Bundestag (1949 – heute)

Ein ähnliches Bild ergibt sich hinsichtlich der Verwendung des Begriffs „Digitalisierung“ im Deutschen Bundestag. Die Wochenzeitschrift „Die ZEIT“ weist mit ihrem Tool zur Auswertung von Bundestagsreden einen ähnlichen Kurvenverlauf aus, wie Google für die Suchanfragen in Deutschland. 

Meine Vermutung ist: Die gesteigerte Verwendung des Begriffs „Digitalisierung“ ist nicht das Ergebnis einer rapide steigenden Verwendung von digitalen Technologien in Unternehmen und Privathaushalten, sondern Ergebnis einer veränderten Wahr­nehmung des Phänomens in der deutschen Öffentlichkeit und der Politik.

Bild 6: Relative Häufigkeit der Suche bei Google nach „Digitalisierung“ und nach “Industrie 4.0″in Deutschland (2004 – heute) im Vergleich

Der Grund dafür ist nach meiner Erfahrung die industriepolitische Initiative „Industrie 4.0“, die im Februar 2011 gestartet wurde, zwischenzeitlich fast verebbt wäre und seit 2013 dazu geführt hat, dass das Thema „Digitalisierung“ als strategisches Thema auf die Agenda der Politik, der Unternehmen und der öffentlichen Wahrnehmung gelangt ist.

Seitdem beginnen nahezu alle Vorträge auf Konferenzen und Tagungen mit den Worten „Die Digitalisierung (Pause), also Industrie 4.0…“ – und zwar unabhängig davon, ob der Vortrag von technischen Fragen oder sozialer Ungleichheit handelt. 

Und seitdem ergießt sich das Füllhorn der Fördermittel über die Universitäten und Forschungseinrichtungen, so dass zunächst in den technischen Disziplinen und später auch in den geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen ein regelrechter Verstärkereffekt ausgelöst wurde. Wer Fördermittel begründen wollte, musste „Digitalisierung“ sagen. 

Etwas überspitzt möchte man daher sagen: Digitalisierung ist ein diskursives Artefakt!​ 

Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn wir uns den realen Verlauf der Entwicklung, die der Begriff vermeintlich bezeichnet, vor Augen halten. 

Würde man den gleichen Sachverhalt im Diskurs des Silicon Valley nachvollziehen, so ergäbe sich folgendes Bild. Auch diese Kurve ist fiktiv. Sie ist eine Resultante unserer vielen Interviews, die wir dort seit 2008 geführt haben.​

Bild 7: Fiktive Darstellung des Diskurses zum Digital Age im Silicon Valley

Im Silicon Valley würde man das Thema wahrscheinlich nicht Digitalisierung, sondern Digital Age nennen. Die Aufmerks­amkeitskurve verläuft hier wie folgt: Bis ge­gen Ende der 1970er Jahre wäre die Kurve nur ge­ringfügig höher als in Deutschland. Ab diesem Zeitpunkt nimmt der Diskurs dann Fahrt auf. Mit dem Micropro­zes­sor und dem darauf aufbauenden Personalcomputer kommt der Computer als Werkzeug in den Privathaushalten und in der Breite der Büros in den Unternehmen an. Dann nimmt die Entwicklung ab ca. 1993 richtig Fahrt auf. Mit dem World Wide Web wird das Internet an die gra­fischen Benutzeroberflächen der PCs anschlussfähig und aus einem Spezialistennetz für Wissenschaft­ler, Nerds und Hacker wird nach und nach ein Jedermanns- und Jederfrausnetz. Das Internet ist der Wahrnehmung der Strategen im Silicon Valley der eigentliche Wendepunkt zum digitalen Zeitalter. 

Dann kommen die Gründungen der Internet-Konzerne, die heute die Entwicklung bestimmen. Amazon 1994, Google 1998. Der New Economy-Crash im Jahr 2000 führt zu einer Delle. Und in Deutschland gibt man Entwarnung: Das Internet war nur ein Hype, heißt es. Und die Strategen in den deutschen Unternehmen verlieren nun vollends das Interesse an dem Thema. 

Das war ein fataler Fehler, denn der Siegeszug des Internets nimmt nach ein paar Jahren schnell wieder an Fahrt auf. Denn mit der Cloud entwickeln die Internet-Konzerne ab 2006 ein Konzept, mit dem sie das Internet in neuer Qualität für neue Geschäftsmodelle und Wertschöpfungskonzepte wie Plattformen nutzen können und spätestens ab diesem Zeitpunkt ist der Trend in eine neue Art der Ökonomie, ich nenne sie Informationsökonomie, an der Westküste der USA bestimmend. Das iPhone 2007 macht den Alltag der Menschen an das Internet anschlussfähig und bricht so die Macht der in Europa lange dominanten Telekommunikationsanbieter. Und das IoT bringt ab 2014 den Brückenschlag der Informationsökonomie in die industriellen Kerne und die Zentren der Dienstleistungswirtschaft. ​

Diese Entwicklung haben wir in Deutschland lange Jahre verschlafen und stattdessen gemeint, mit „Industrie 4.0“ ein geeignetes Gegenkonzept gefunden zu haben. Das fällt uns jetzt auf die Füße. Die Informationsökonomie wird nun in den Köpfen der Strategen in Wirtschaft und Gesellschaft zu einer ernsthaften Bedrohung und führt zu hektischen Reaktionen. VW macht strategische Partnerschaften mit Microsoft Azure für ein Connected Car-Projekt in der Cloud und danach mit Amazon Web Services, um gemeinsam mit Siemens eine Industrie-Cloud aufzubauen. Das markiert vermutlich den Dammbruch hinsichtlich des Übergangs der deutschen Industrie in die Informationsökonomie. 

Was lehrt uns das?​

Digitalisierung ist ein unbeholfener Versuch, den mit dem Internet einsetzenden ökonomischen und gesellschaftlichen Umbruch zu beschreiben, ohne das eigene Versagen – nämlich das Internet verschlafen zu haben – beim Namen zu nennen​. Weil wir das Internet – genauer noch, den Informationsraum – aus der Debatte ausklammern und stattdessen den schillernden Begriff „Digitalisierung“ verwenden, irrlichtern die Debatten um die Gestaltung der Zukunft beständig umher und unsere Strategiebildungsversuche verebben ohne Erfolg.

Die inflationäre Verwendung von Digitalisierung seit 2013 ist eine Art „Pfeifen im Walde“ – je mehr Menschen deutlich wird, dass wir die Entwicklung verschlafen haben, desto aufgeregter wird der Begriff verwendet​.  Dadurch entsteht eine diskursive Kakophonie, die umso lauter in den Ohren dröhnt, je weniger sie zur Klärung der entscheidenden Zukunftsfragen beiträgt.

Wir haben also drei Probleme bei der Strategiebildung im digitalen Umbruch: Erstens, Angst ist kein guter Ratgeber. Zweitens, wir müssen offen damit umgehen, dass wir das Internet verschlafen haben und daher den eigentlichen Gag im digitalen Umbruch nicht richtig verstanden haben. Und drittens, wir müssen lernen ein neues Verständnis der Entwicklung, in meinem Sprachgebrauch eine neue paradigmatische Orientierung zu entwickeln, um in der Lage zu sein, die Zukunft erfolgreich zu gestalten.

 

4    Internet als Basis des historischen Umbruchs

Um ein besseres Verständnis des digitalen Umbruchs und eine neue Orientierung zu entwickeln, brauchen wir eine Antwort auf die Frage „Warum ist das Internet die Basis des Umbruchs?“ Hier möchte ich Ihnen auf der Basis unserer „Theorie der Informatisierung“ ein hilfreiches Deutungsangebot machen.​

Das Internet ist nicht einfach eine neue digitale Technologie und auch keine „Datenautobahn“. Das Internet ist eine Mitmachinfrastruktur. Es lädt Menschen ein, selbst aktiv zu werden, es nicht nur im Sinne der vorgegebenen Programmierung zu verwenden, sondern entsprechend ihrer eigenen Zwecke zu verändern. Weil Menschen das Internet als Mitmachinfrastruktur nutzen, erzeugen sie im tagtäglichen Gebrauch von Milliarden Menschen weltweit einen „Informationsraum“. ​Dieser auf der Basis des Internets entstehende Informationsraum ist nicht einfach Technik, sondern ein neuartiger sozialer Handlungsraum – dem Potential nach ein Meta-Werkzeug zur Steigerung der geistigen Produktivkräfte der Menschheit und ein Produktivkraftsprung in der Geschichte der Menschheit.

Bild 8: Internet als Basis des historischen Umbruchs

Denn dieser Informationsraum ist eine neuartige weltgesellschaftliche Handlungsebene. Sie ermöglicht es Menschen Informationen zu teilen, miteinander zu spielen, sich zu verlieben und – wenn die öffentlichen Behörden mitziehen – auch bald wieder scheiden zu lassen. Kurzum, der Informationsraum ist ein neuartiger sozialer Handlungsraum, in dem sich die Menschen einen nahezu unbeschränkten Möglichkeitsraum zur Erweiterung ihrer Handlungsmöglichkeiten schaffen und so ihre soziale Existenz beständig reproduzieren. ​Das Leben der Menschen findet nun auf zwei miteinander verschachtelten Büh­nen statt. Es ist immer zugleich analog und digital.​

Dieser Informationsraum ist die Basis für den historischen Umbruch in der Welt-Gesell­schaft, den wir gemeinhin mit dem unscharfen Begriff Digitalisierung bezeichnen. Er führt in allen gesellschaftlichen Teilsystemen, also der Wirt­schaft, der Politik, der Öffentlichkeit, der Bildung – und der Lebensweise der Menschen zu einer radikalen Veränderung. 

 

5    Paradigmenwechsel „Große Industrie” zu Informationsökonomie

In dem Maße, wie der Informationsraum zur bestimmenden Instanz in der Weltgesellschaft und insbesondere in der Ökonomie wird, wird ein Paradigmenwechsel vom Paradigma der „großen Industrie“ zum Paradigma der Informationsökonomie eingeleitet.​ Damit ändern sich die Parameter der Strategiebildung fundamental.

Der öffentliche Diskurs und die Strategiebildung in Wirtschaft und Politik finden bis heute weitgehend im Paradigma der „großen Industrie“ statt. Dieses hat sich im 19. Jahrhundert mit den Maschinensystemen der Industrie herausgebildet. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts erhielt es dann durch den Taylorismus und den Fordismus seine charakteristische Prägung. Die Automobilindustrie galt viele Jahrzehnte als Leitbranche dieses Paradigmas. ​ 

Bild 9: Informationsökonomie

In dem Maße, wie es den Internet-Unter­nehmen ge­lungen ist, um den Informationsraum herum ein neues ökonomisches Kon­zept aufzubauen, zeichnet sich die Durchsetzung eines neuen Paradigmas ab. Unternehmen wie Ama­zon, Google, Spoti­fy, Netflix oder Tesla haben unsere Vorstellungen von Wertschöpfung revolutioniert. Sie etablieren neue Geschäftsmodelle, die auf Informationen beruhen und über Plattformen im Informationsraum orchestriert werden. ​ 

Wie wird in diesem Konzept der Informationsökonomie Wertschöpfung gedacht? Der Ausgangspunkt der Wertschöpfung sind Daten über die reale Nutzung der Services durch einen individuellen Kunden, möglichst in Echtzeit. Diese werden zu nützlichen Informationen verarbeitet, die Aufschluss darüber geben, wie das Produkt oder der Service weiterentwickelt werden könnte. Dazu werden seit Neuestem verstärkt Big-Data-Ansätze und mustererkennende Methoden, vulgo KI, eingesetzt. Deshalb poppt das Thema KI neuerdings so hoch. Die so resultierenden Informationen werden genutzt, um das Portfolio beständig zu innovieren.  

So ergibt sich ein Wertschöpfungskonzept, das auf Innovation in Permanenz setzt und auf beständige Lernschleifen der Organisation aufbaut. Die Qualität dieser Lernschleifen und die Verfügung über die diesen zugrunde liegenden Daten und insbesondere die Fähigkeit, aus diesen Daten nützliche Informationen und Innovationen zu machen sind die zentralen Erfolgsfaktoren dieses Modells. ​ 

Gegenwärtig schicken sich die Internet-Unternehmen aus den USA und zunehmend auch aus China an, dieses neue Konzept der Ökonomie auf die übrige Wirtschaft zu übertragen. Begnügte man sich anfangs noch mit der IT-Industrie und bestimmten Consumerbranchen wie Musik, Film oder Handel, so erfolgt nun aufbauend auf dem Konzept der Cloud und im Zusammenspiel mit den strategischen Hebeln Internet of Things (IoT) und Künstliche Intelligenz der Brückenschlag in die industriellen Kerne und die Zentren der Dienstleistungswirtschaft. ​ 

Es ist also höchste Zeit, darüber nachzudenken, wie wir mit der Herausforderung des Paradigmen­wechsels zur Informationsökonomie umgehen wollen.   

 

6    Berufliche Bildung im Paradigmenwechsel

Ich komme zum Schluss. Was bedeutet dies für die Neuausrichtung der beruflichen Bildung? Meine Überlegungen möchte ich in drei Thesen zusammenfassen.​

Bild 10: Mensch im Mittelpunkt der Wertschöpfung der Zukunft

Erstens: Der Mensch steht mehr denn je im Zentrum der Wertschöpfung der Zukunft – denn Maschinen verarbeiten Daten und Menschen machen daraus nützliche Informationen und Innovationen.​

Zweitens: Die Kernkompetenzen der Zukunft zentrieren um die Fähigkeit aus Daten nützliche Informationen und Innovationen zu machen. Dazu ist es notwendig, die „Domainkompetenz“ in Bezug zu Daten und Informationen zu reformulieren und über eine „kommunikative Fach­lichkeit“ die Brücke zu Fachkräften aus anderen Disziplinen und Unternehmen bauen zu können.​

Bild 11: Kompetenzprofil der Zukunft

Drittens: Die strategische Herausforderung für die Be­rufs­bildung ist die Refor­mu­­lie­rung der Beruflichkeit für den Paradig­men­wechsel zur Informations­ökonomie. Die Re­formulie­rung der beruflichen Identität der Menschen ist der archimedi­sche Punkt, um sie für das Pro­jekt eines erfolgreichen Para­digmen­wechsels zu gewinnen.

 

Fußnote zum Titel:

¹ Die in Anlehnung an Bill Clintons berühmten Satz „It‘s the economy, stupid“ entstande Überschrift habe ich der Dissertation meines Kollegen Alexander Ziegler: Der Aufstieg des Internet of Things: disruptiver Wandel für Wirtschaft und Arbeitswelt? Erlangen 2019 entnommen.

 

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Boes, Andreas (2019): It’s the internet, stupid. Ideen zur Neuausrichtung der Berufsbildung in der digitalen Transformation. Online verfügbar unter https://idguzda.de/blog/berufsbildung-in-der-digitalen-transformation [05.11.2019].

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Weiterführende Literatur

Baukrowitz, A.; Boes, A.; Eckhardt, B.: Software als Arbeit gestalten. Konzeptionelle Neuorientierung der Aus- und Weiterbildung von Computerspezialisten. Westdeutscher Verlag, Opladen 1994.

Boes, A.: Informatisierung. In: SOFI, IAB, ISF München, INIFES (Hrsg.): Berichterstattung zur sozioökonomischen Entwicklung in Deutschland Arbeits- und Lebensweisen. Erster Bericht, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2005, S. 211-244.

Boes, A.: Qualifizieren für das Arbeiten im globalen Informationsraum. In: WSI-Mitteilungen, Heft 2 (2017), S. 155-157.

Boes, A.; Baukrowitz, A.: Fachkräfteentwicklung in der Informations- und Kommunikationstechnikbranche – zu den Chancen neuer Ausbildungsberufe. In Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis (BWP), 1, 26 (1997), S. 12-16.

Boes, A., Baukrowitz, A., Kämpf, T., Marrs, K. (Hrsg.): Qualifizieren für eine global vernetzte Ökonomie. Vorreiter IT-Branche: Analysen, Erfolgsfaktoren, Best Practices. Springer Gabler, Wiesbaden 2012.

Boes, A.; Baukrowitz, A.; Schwemmle, M.: Veränderungstendenzen der Arbeit im Übergang zur Informationsgesellschaft. Befunde und Defizite der Forschung. Enquete-Kommission „Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft. Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft“. In: Deutscher Bundestag (Hrsg.): Arbeitswelt in Bewegung: Trends, Herausforderungen, Perspektiven, Zeitungs-Verlag Service, Bonn 1998, S. 13-170.

Boes, A.; Bultemeier, A.; Kämpf, T.; Lühr, T.; Marrs, K.; Ziegler, A.: Neuland gestalten. Das Konzept der betrieblichen Praxislaboratorien. In: Werkheft 03 „WeiterLernen“ (2017), S. 154-162.

Boes, A.; Bultemeier, A.; Trinczek, R. (Hrsg.): Karrierechancen von Frauen erfolgreich gestalten. Analysen, Strategien und Good Practices aus modernen Unternehmen. Springer Gabler, Wiesbaden 2014.

Boes, A.; Gül, K.; Kämpf, T.; Langes, B.; Lühr, T.; Marrs, K.; Vogl, E.; Ziegler, A.: Silicion Valley. Vorreiter im digitalen Umbruch. Folgen für Deutschland und Europa. ISF München, München 2018.

Boes, A.; Kämpf, T.: Arbeiten im globalen Informationsraum. In: Werkheft 01 „Digitalisierung der Arbeitswelt“ des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (2016), S. 22-28.

Boes, A.; Kämpf, T.; Langes, B.; Lühr, T.: „Lean“ und „agil“ im Büro. Neue Organisationskonzepte in der digitalen Transformation und ihre Folgen für die Angestellten. Transcript, Berlin 2018.

Boes, A.; Langes, B. (Hrsg.): Die Cloud und der digitale Umbruch in Wirtschaft und Arbeit. Strategien – Best Practices – Gestaltungsimpulse. Haufe, Freiburg 2019.

Sattelberger, T.; Welpe, I.; Boes, A. (Hrsg.): Das demokratische Unternehmen. Neue Arbeits- und Führungskulturen im Zeitalter digitaler Wirtschaft. Haufe, Freiburg/München 2015.

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