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KI – Strategischer Baustein der Arbeit in der Informationsökonomie

Beitrag von Andreas Boes, Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V.

Kürzlich durfte ich im Rahmen des Stuttgarter Zukunftssymposiums Ethik und KI „Arbeit 4.0 – Kollege KI” zum Thema Künstliche Intelligenz und den absehbaren Auswirkungen in der Arbeitswelt referieren. In diesem Blog fasse ich meine Überlegungen hierzu zusammen. 

Vorab, warum befasse ich mich überhaupt mit KI? 

Das Thema „KI“ ist mir im Laufe meines Berufslebens immer wieder über den Weg gelaufen. In den 1980er Jahren habe ich mich zum ersten Mal damit befasst, um dann irgendwann in den 1990er Jahren aus diesem Diskurs auszusteigen. Ich hatte die immer wiederkehrenden Versprechungen satt, dass die jeweils neue Generation der KI aber diesmal wirklich den Durchbruch bringe und die Intelligenz von Menschen ersetze. Und ich hatte durch unsere Empirie in den Vorreiterunternehmen die Expertensysteme in der Arbeitswelt vor Augen, die keinen Menschen interessiert haben, weil sie sich immer nur mit dem explizierten Wissen und dem anerkannten Expertenwissen der Organisationen befassten, was erfahrungsgemäß nur eine (unbedeutende) Teilmenge des vorhandenen Wissensbestands der Unternehmen darstellte. „Wenn Siemens wüsste, was Siemens weiß“ hieß es damals immer.  

Also, nachdem ich mich dann gut 20 Jahren überhaupt nicht mehr ernsthaft mit dem Thema auseinandergesetzt hatte, ist es mir bei unserem zweiten Besuch im Silicon Valley im Jahre 2015 allerdings klar geworden, dass ich da einen forschungsstrategischen Fehler gemacht hatte. Denn die Internetunternehmen, die wir hier untersuchten, hatten KI zum strategischen Baustein ihrer Geschäftsmodelle erklärt. Die KI war für sie der Meta-Schlüssel, mit dem sie jede Wertschöpfungskette knacken können, der ultimative Hebel also, um eine strategische Position in den Wertschöpfungsketten – und in Zukunft vor allem der klassischen Wirtschaft zu ergattern. In unserem Blog haben wir dieses Ergebnis unserer Forschung näher beschrieben.  

Klar, ich gebe zu, das hätte ich wissen können. Schon 1996 haben Andrea Baukrowitz und ich in einem gemeinsamen Artikel zur Zukunft der Arbeit relativ weitsichtig diese strategische Bedeutung der Künstlichen Intelligenz in den Geschäftsmodellen der Zukunft vorausgesagt, ohne sie auf den Begriff bringen zu können. Denn das heute dominante Konzept der KI, das neuronale Netze durch Massendaten trainiert, und vor allem dort zur Anwendung kommt, wo Muster in einem (meist) unstrukturierten Wust von Daten identifiziert werden sollen, hatte damals nur eine untergeordnete Bedeutung (Carson/Cointet/Mazières 2018).

Sein Potential war also noch nicht erkennbar und dem damals dominanten Ansatz der Expertensysteme misstrauten wir, so dass wir in der damals noch unspezifisch von „Data-Mining“ sprachen.  

Aber alles andere ließ sich offensichtlich schon damals mit einer geeigneten theoretischen Grundlage voraussehen. Zum besseren Verständnis erlaube ich mir die ganze Passagen zu zitieren:

Mit der Ausbreitung des Informationsraums bis in die tiefsten Poren der Gesellschaft wird über die weltweite Integration der Produktionsprozesse hinaus die Basis für die verstärkte systemische Einbindung des Kunden in die Produktionsprozesse geschaffen, relevante Anteile gesellschaftlicher Arbeit in die Privatsphäre verlagert und damit die Ökonomisierung lebensweltlicher Bereiche vorangetrieben. Dabei ist ‚systemische Einbindung‘ keineswegs ironisch gemeint: Die Warensammlung wird immer präsenter, Konsum als Konstituente der Gesellschaft immer dominanter. Über die Informationsebene wird eine neue Stufe der Ästhetisierung des Konsums vorgenommen (…). Die Waren können unmittelbar an den Käufer herangebracht und der Kaufakt ins Wohn- oder Kinderzimmer verlagert werden. Flankierend wird der Käufer berechenbar gemacht, sobald er (…) Bestellvorgänge auslöst. Beispiele hierfür sind sog. ‚Data-Mining-Programme‘, die den Unternehmen dazu dienen, ihre Verkaufsstrategien durch Neuinterpretation ihrer Kundeninformationen zu verbessern. Dies verändert die Bedingungen der Marktanalyse und macht die gezielte Bearbeitung des Kunden wesentlich effektiver. Das Ideal der systemischen Produktionsweise, nämlich eine Ware erst dann zu produzieren, wenn sie gekauft wird, rückt damit erheblich näher. Diese über den Informationsraum vermittelte Einbeziehung der Kunden in den Produktionsprozeß stellt eine neue Qualität der Reproduktion des Kapitals dar. Der Fordismus schaffte sich durch Zahlung relativ hoher Löhne eine ausreichende kaufkräftige Nachfrage, um die Waren der Massenproduktion in ausreichender Anzahl absetzen zu können, und versuchte so, die Gegebenheiten des Marktes in gewissen Grenzen entsprechend den Erfordernissen der Produktion zu gestalten. Verglichen damit gehen die Unternehmen im Übergang zur ‚Informationsgesellschaft‘ einen großen Schritt weiter, wenn sie die Unsicherheiten des Marktes dadurch zu unterlaufen suchen, daß sie den Kunden und damit die Distribution über die Informationsebene zu einem Teil des Produktionsprozesses machen.“ (Baukrowitz/Boes 1996, 143f.) 

Heißt also, mit diesen Vorüberlegungen im Gepäck hätten wir also schneller darauf kommen können, dass die KI absehbar zu einem strategischen Baustein neuer Geschäftsmodelle werden wird. Aber in unserer Empirie in der deutschen Wirtschaft ist der hier vorausgesagte Umbruch in der Wirtschaft über Jahrzehnte verschlafen worden und bis heute nicht richtig verstanden. Und selbst bei unserem Besuch im Jahre 2008 im Silicon Valley war das Thema noch nicht wirklich heiß. Zwar hatte man hier ein paar Jahre vorher eine Methode gefunden, neuronale Netze effizient mit Massendaten zu trainieren. Aber in der Praxis der Unternehmen dort, war das damals noch kein großes Thema. Das hatte sich dann aber schlagartig im Jahre 2015 geändert. Die Interviews bei den Strategen im Valley – und zwar sowohl bei den amerikanischen Internetunternehmen, also auch in den deutschen Industrieunternehmen, die dort ihre Entwicklungslabore haben machten uns deutlich, dass sich hier ein Game-Changer entwickelt hatte, ein strategischer Baustein für die neuen Geschäftsmodelle, die sich um das Internet zentrieren und von hier aus absehbar einen Brückenschlag in die industriellen Kerne und die Zentren der Dienstleistungswirtschaft organisierten.  

Die Frage ist: Was bedeutet das für die Zukunft der Arbeitswelt? Dem will ich im Folgenden nachgehen. 

1    KI in der Arbeitswelt

Künstliche Intelligenz ist auch in der deutschen Debatte mittlerweile ein Megathema. Fast täglich gibt es Nachrichten über die neuesten Leistungssprünge von Supermaschinen mit vermeintlich übermenschlichen Fähigkeiten. Die Protagonisten der KI-Entwicklung kommen aber nach wie vor vornehmlich aus den USA und China. Schaut man in die deutschen Unternehmen, so finden sich KI-Anwendungen zwar zunehmend in der Praxis. Allerdings – das zeigen aktuelle Forschungsprojekte – bei weitem nicht so viele, wie man aufgrund der aufgeregten Diskussion in der Öffentlichkeit denken könnte. Vier Beispiele aus unserer eigenen empirischen Forschung veranschaulichen die Breite der Anwendungen der KI in deutschen Unternehmen und deren Bedeutung für diese Unternehmen.  

Bild 1: KI in der Arbeitswelt


Mein erstes Beispiel stammt von einem Startup im Onlinehandel. Es beschäftigt sich mit Zahlungsvorgängen. Das Herzstück dieses Unternehmens ist eine „Maschine“, die genutzt wird, um in Sekundenbruchteilen zu entscheiden, ob ein Käufer im Online-Handel einen Kredit bekommen kann oder nicht. Diese Risikobewertung lief ursprünglich konventionell über die einschlägigen
Finanz-Datenbanken und wird zunehmend mit Elementen angereichert, die dem Feld der Künstlichen Intelligenz zuzurechnen sind. Die Treffsicherheit dieser Maschine bei Voraussagen über das Zahlungsverhalten von Kunden ist essentiell für den Erfolg des Unternehmens.  

Mein zweites Beispiel stammt aus der Robotik. Sie wissen sicher, dass die Roboter in der Industrie seit einigen Jahren ihre Käfige verlassen haben und in einer direkten Mensch-Maschine-Kooperation agieren. Im Silicon Valley haben wir nun das Forschungslabor eines großen deutschen Automotiv-Unternehmen besucht. Hier wurde eine neue Generation von Robotern entwickelt, die ihr menschliches Gegenüber aufgrund von Mustern und Wahrscheinlichkeitsberechnungen besser einschätzen können, um so die Kooperation erheblich zu optimieren.  

Ein sehr großes Einsatzgebiet für KI ist die Kundenschnittstelle. Unser drittes Beispiel stammt aus dem Kundencenter eines großen Telekommunikationsdienstleisters. Hier werden Chat-Bots eingesetzt, um Kunden im Call-Center an die richtigen Sachbearbeiter zu routen. Zukünftig möchte man dies auf der Basis von Stimmerkennungs-KI weiter optimieren. Wenn das System nämlich anhand der Stimme erkennt, ob ein Kunde entspannt oder wütend ist, hilft das sehr, mit erfahrenden Mitarbeitern die Lage zu entspannen bevor sie eskaliert.   

Und das vierte Beispiel handelt vom Autopiloten im Automobilbau, im Bild ein Tesla. Auch hier liefern deutsche Unternehmen wichtige Komponenten auf Basis der KI zu. Für das Unternehmen hier im Schwäbischen war dieser Schritt eine große Umstellung. Denn mit den neuen KI-Algorithmen kamen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ins Unternehmen, die in einer anderen Kultur des Arbeitens unterwegs waren und viele Innovationen bei der Organisation der Arbeit und der Kultur des Umgangs erforderlich machten.  

Das zeigt: Die KI ist auch in deutschen Unternehmen angekommen. Ihre Einsatzfelder sind enorm breit. Im Kern findet sie überall dort Anwendung, wo es sinnvoll ist, auf der Basis großer, oft unstrukturierter Datenbestände, Muster zu erkennen, um diese in Entscheidungen überführen zu können. 



2   Was bringt die KI für die Arbeitswelt?

Was sagt nun die Wissenschaft zu den absehbaren Auswirkungen der KI auf die Arbeitswelt?  

Grundlegende Studien zum Wandel der Arbeit sind bisher Mangelware. Das liegt vor allem daran, dass der Verbreitungsgrad von KI-Anwendungen in der Praxis bisher noch in den Kinderschuhen steckt, sodass empirisch valide Aussagen nur eingeschränkt möglich sind.  

Die prominenten Studien zur Wirkung der Digitalisierung auf den Wandel der Arbeitswelt, die in der Öffentlichkeit viel diskutiert wurden, haben das Thema KI noch nicht auf der Rechnung. Wenn also beispielsweise Frey und Osborne in der 2013 veröffentlichten Prognose zur Entwicklung des US-amerikanischen Arbeitsmarkts voraussagen, dass 47% der Jobs durch die Digitalisierung hochgradig gefährdet sind, ist da noch kein expliziter Bezug zur Wirkung der KI dabei. Die Studien in Deutschland, wie die von Bonin et al. (2015) aus dem ZEW, prognostizieren zwar für den deutschen Arbeitsmarkt eine viel undramatischere Entwicklung. Aber auch sie haben das Thema KI noch nicht wirklich auf der Rechnung.  

Mit einem gewissen Bezug auf die Bedeutung der KI für die Zukunft der Arbeitswelt argumentieren Studien, die vom World Economic Forum im letzten Jahr vorgelegt wurden. Sie plädieren für eine umfassende Steigerungsstrategie damit der technische Wandel die komparativen Vorteile der Arbeitskräfte verstärkt und somit bessere Arbeit ermöglicht. Um diese positive Zukunft zu realisieren, müssen aber die Arbeitnehmer durch Umschulungen und Fortbildungen in die richtige Ausgangslage gebracht werden.  

Aufschlussreich ist auch die Studie Szenario-Report „KI-basierte Arbeitswelten 2030“ des Foresight-Labs um Klaus Burmeister (2019), die im Rahmen eines Projekts des Fraunhofer IAO für das BMBF erstellt wurde. Anhand von sechs möglichen Szenarien zeigt sie auf, wie sich die KI bis 2030 insbesondere auf Sachbearbeitung auswirken könnte. Die Szenarien verdeutlichen eine große Diskrepanz zwischen unterschiedlichen Entwicklungspfaden, mit zum Teil sehr positiven, zum Teil aber auch sehr negativen Wirkungen für die Beschäftigung in diesem Berufsfeld sowie die Chancen auf eine gute Arbeit.  

Ich komme also zu dem vorläufigen Ergebnis, dass es mit Blick auf die Forschung keine abschließende Meinung zu den Wirkungen der KI auf die Arbeitswelt gibt. Nicht nur die KI steckt in einer Übergangsphase – auch die Forschung. Aktuell kommt es darauf, durch empirische Feldstudien bei den Vorreitern der Entwicklung die realen Einsatzmöglichkeiten und der Wirkung auf die Arbeitswelt empirisch zu analysieren. Eine Kaffeesatzleserei mit dubiosen Datenmodellen hilft uns beim gegenwärtigen Entwicklungsstand nicht weiter. Wichtig ist, dass wir die Gestaltungsalternativen und die Eingriffspunkte in der Praxis verstehen.   

Neuere Forschungen verdeutlichen nämlich einen großen Gestaltungsspielraum mit je unterschiedlichen Wirkungen für Arbeit und Beschäftigung. Wir müssen uns also eingehender mit den Wirkzusammenhängen befassen. Lassen Sie mich daher näher beleuchten, wie sich die KI historisch entwickelt hat und warum wir seit Neuestem wieder so viel über KI sprechen. 

3    Phasen der KI

Künstliche Intelligenz ist ein Thema, das seit vielen Jahrzehnten immer wieder intensiv diskutiert wird. In einer vereinfachten Darstellung durchläuft die Entwicklung drei Phasen. Die Frühphase, die Reagenzglasphase (von vielen auch als „KI-Winter“ bezeichnet) und die Anwendungsphase.  

Neuronale Netzwerke und automatische Computer werden seit mehr achtzig Jahren erforscht (Carson/Cointet/Mazières 2018) und seit der Dartmouth-Konferenz im Jahre 1956 von hervorgehobenem Interesse. Bis Mitte der 1970er Jahre fand dies allerdings vorwiegend im Elfenbeinturm und in künstlich geschaffenen Mikrowelten statt. Das war die Frühphase der Entwicklung.   

Zwar öffnete sich die KI-Forschung in den Folgejahren für praktische Anwendungszwecke, der große Durchbruch ließ aber noch geraume Zeit auf sich warten. Diese Phase nenne ich die Reagenzglasphase. Innovationen werden immer wieder angestoßen, skalieren aber nicht – erhalten also keine große kommerzielle Bedeutung. Der immer wieder angekündigte Durchbruch der KI lässt auf sich warten und das ständige Rufen „Wölfe, Wölfe“ ihrer Protagonisten lässt das öffentliche Interesse nach und nach erlahmen. Die Insider bezeichnen diese Phase daher als „KI-Winter“.  

Das ändert sich Ende der Nuller-Jahre. Seitdem verließ KI die Forschungslabors und wanderte in den Einflussbereich der Unternehmen, namentlich vor allem der GAFAM. Also Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft – und der chinesischen Internet-Giganten wie Alibaba, Baidu, Tencent. Die Fortschritte in KI-Verfahren wie dem Maschinellen Lernen und dem so genannten Deep Learning, die enorme Steigerung von Rechenkapazitäten und Rechenleistung sowie die zunehmende Verfügbarkeit großer Datenmengen ebneten in dieser Anwendungsphase den Weg für den kommerziellen Durchbruch von KI. Und damit auch für die Durchdringung nahezu sämtlicher Anwendungsdomänen des täglichen Lebens – von Spracherkennungssystemen wie Alexa oder Siri im Smart Home, über das autonome Fahren bis hin zur intelligenten Steuerung von Produktions- und Arbeitsprozessen in der Wirtschaft.  

Mit diesem Wandel ist auch ein grundlegender Wandel in den Konzepten der KI verbunden, der in der deutschen Debatte immer nur am Rande mitdiskutiert wird. Während der Reagenzglasphase dominierten vor allem Ansätze der Logischen KI, die auf Expertensysteme mit Hilfe logischer Verknüpfungen zielen. Dies ändert sich mit der neuen Welle. Seitdem die KI in die Anwendungsphase gekommen ist, dominiert der Ansatz, der auf neuronale Netze setzt. Dieser ist vor allem mit dem Begriff des „Deep Learning“ verbunden. Er baut auf der stochastischen Verarbeitung großer Datenmengen mit Hilfe großer Rechnerkapazitäten und neuronaler Netze auf.  Beide Ansätze haben ihre Berechtigung und werden gegenwärtig auch weiterverfolgt. Seitdem aber die KI in die Phase der kommerziellen Nutzung eingetreten ist, hat das deep learning international klar die Nase vorn. Auch wenn dies im deutschen Diskurs noch nicht so angekommen ist. 


4    Warum wird KI zum Thema?

Die Frage ist nun, warum bekommt die KI eigentlich eine so große Bedeutung? Die gängige Erzählung verweist hier auf Steigerungen der Rechnerkapazitäten und Durchbrüche bei den Methoden des Deep Learning, insbesondere beim Training von neuronalen Netzen. Das ist natürlich richtig. Aber warum führen diese Entwicklungen dazu, dass die KI zum strategischen Baustein in der Wirtschaft wird? Dazu müssen wir uns kurz mit der Geschichte des digitalen Umbruchs befassen.  

Bis gegen Ende der 1970er Jahre war das Thema Digitalisierung eine Angelegenheit für Spezialisten in den Rechenzentren. Aber ab diesem Zeitpunkt nimmt die Entwicklung dann in der Breite der Wirtschaft und auch in der Lebenswelt der Menschen deutlich an Fahrt auf.  

Bild 2: Geschichte des Digital Age


Mit dem
Mikroprozessor und dem darauf aufbauenden Personalcomputer kommt der Computer als Werkzeug in den Privathaushalten und in der Breite der Büros in den Unternehmen an. Dann schießt die Entwicklung ab ca. 1993 richtig nach oben.  

Mit dem World Wide Web wird das Internet an die grafischen Benutzeroberflächen der PCs anschlussfähig und aus einem Spezialistennetz für Wissenschaftler, Nerds und Hacker wird nach und nach ein Jedermanns- und Jederfrausnetz. Das Internet ist in der Wahrnehmung der Strategen im Silicon Valley der eigentliche Wendepunkt zum digitalen Zeitalter.   Dann kommen die Gründungen der Internet-Konzerne, die heute die Entwicklung bestimmen. Amazon 1994, Google 1998. Der New Economy-Crash im Jahr 2000 führt zu einer Delle. Und in Deutschland gibt man Entwarnung: Das Internet war nur ein Hype, heißt es. Und die Strategen in den deutschen Unternehmen verlieren nun vollends das Interesse an dem Thema.    

Das war ein fataler Fehler, denn der Siegeszug des Internets nimmt nach ein paar Jahren schnell wieder an Fahrt auf. Denn mit der Cloud entwickeln die Internet-Konzerne ab 2006 ein Konzept, mit dem sie das Internet in neuer Qualität für neue Geschäftsmodelle und Wertschöpfungskonzepte wie Plattformen nutzen können und spätestens ab diesem Zeitpunkt ist der Trend in eine neue Art der Ökonomie, ich nenne sie Informationsökonomie, an der Westküste der USA bestimmend.   

Das iPhone 2007 macht den Alltag der Menschen an das Internet anschlussfähig und bricht so die Macht der in Europa lange dominanten Telekommunikationsanbieter. Und das IoT bringt ab 2014 den Brückenschlag der Informationsökonomie in die industriellen Kerne und die Zentren der Dienstleistungswirtschaft. Es ist also das Internet, das die neue Phase der Digitalisierung eingeläutet hat und die Grundlage dafür schafft, dass wir heute anders über KI diskutieren als noch vor einigen Jahren.  

Diese Entwicklung haben wir in Deutschland lange Jahre verschlafen und stattdessen gemeint, mit „Industrie 4.0“ ein geeignetes Gegenkonzept gefunden zu haben. Und in Sachen KI haben wir weiter an unseren Expertensystemen herumgebastelt und sind in der Reagenzglasphase geblieben. Das fällt uns jetzt auf die Füße. Die Informationsökonomie wird nun in den Köpfen der Strategen in Wirtschaft und Gesellschaft zu einer ernsthaften Bedrohung und führt zu hektischen Reaktionen. Die hektische Suche nach KI-Strategien ist eine konkrete Folge davon. 



5   Internet als Basis des historischen Umbruchs

Warum ist das Internet aber so wichtig für diese Entwicklung?  

Das Internet ist nicht einfach eine neue digitale Technologie und auch keine „Datenautobahn“. Das Internet ist eine Mitmachinfrastruktur. Es lädt Menschen ein, selbst aktiv zu werden, es nicht nur im Sinne der vorgegebenen Programme zu verwenden, sondern entsprechend seiner Zwecke zu verändern. Das Internet ist also dem Potential nach ein Meta-Werkzeug zur Steigerung der geistigen Produktivkräfte der Menschheit. Weil die Menschen das Internet als Meta-Werkzeug und Mitmachinfrastruktur nutzen, erzeugen sie im tagtäglichen Gebrauch von Milliarden Menschen weltweit einen „Informationsraum“.  

Dieser auf der Basis des Internet entstehende Informationsraum ist nicht einfach Technik, sondern ein sozialer Handlungsraum und als solcher ein Produktivkraftsprung in der Geschichte der Menschheit. Denn dieser Informationsraum ist eine neuartige weltgesellschaftliche Handlungsebene. Sie ermöglicht es Menschen Informationen zu teilen, miteinander zu spielen, sich zu verlieben und – wenn die öffentlichen Behörden mitziehen – auch bald wieder scheiden zu lassen. Kurzum, der Informationsraum ist ein neuartiger sozialer Handlungsraum, der den Menschen einen nahezu unbeschränkten Möglichkeitsraum zur Erweiterung ihrer Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stellt. Das Leben der Menschen findet nun auf zwei miteinander verschachtelten Bühnen statt. Das soziale Leben ist immer zugleich analog und digital.    

Dieser Informationsraum ist die Basis für einen historischen Umbruch in der Welt-Gesellschaft. Er führt in allen gesellschaftlichen Teilsystemen, also der Wirtschaft, der Politik, der Öffentlichkeit, der Bildung – und der Lebensweise der Menschen zu einer radikalen Veränderung. 



6    Paradigmenwechsel „Große Industrie“ zu Informationsökonomie

In dem Maße, wie es den Internet-Unternehmen gelungen ist, um den Informationsraum herum ein neues ökonomisches Konzept aufzubauen, zeichnet sich die Durchsetzung eines neuen kohärenten Musters des Wirtschaftens ab. Unternehmen wie Amazon, Google, Spotify, Netflix oder Tesla haben unsere Vorstellungen von Wertschöpfung revolutioniert. Sie etablieren neue Geschäftsmodelle, die auf Informationen beruhen und über Plattformen im Informationsraum orchestriert werden.   

So ergibt sich ein Wertschöpfungskonzept, das auf Innovation in Permanenz setzt und auf beständige Lernschleifen der Organisation aufbaut. Die Qualität dieser Lernschleifen und die Verfügung über die diesen zugrunde liegenden Daten und insbesondere die Fähigkeit, aus diesen Daten nützliche Informationen und Innovationen zu machen sind die zentralen Erfolgsfaktoren dieses Modells.    

Gegenwärtig schicken sich die Internet-Unternehmen aus den USA und zunehmend auch aus China an, dieses neue Konzept der Ökonomie auf die übrige Wirtschaft zu übertragen. 

Begnügte man sich anfangs noch mit der IT-Industrie und bestimmten Consumerbranchen wie Musik, Film oder Handel, so erfolgt nun aufbauend auf dem Konzept der Cloud und im Zusammenspiel mit den strategischen Hebeln Internet of Things (IoT) und Künstliche Intelligenz der Brückenschlag in die industriellen Kerne und die Zentren der Dienstleistungswirtschaft.   

KI ist also ein strategischer Baustein der Wertschöpfung in der Informationsökonomie. Deshalb sprechen wir so viel über dieses Konzept. Und in diesem Kontext müssen wir auch über die Gestaltung der KI in der Arbeitswelt nachdenken, um die Wirkzusammenhänge und die Stellhebel der Gestaltung identifizieren zu können.  


7    KI gestalten: Handlungsalternativen 

Für die Gestaltung der KI in der Arbeitswelt sehe ich vereinfacht dargestellt zwei alternative Ansätze. Den einen nenne ich „Artificial Intelligence“, den zweiten „Extended Intelligence“. Beide Ansätze orientieren die Entwicklung und den Einsatz der KI in der Arbeitswelt in eine je eigene Richtung. Sie wirken also wie unterschiedliche Leitorientierungen bei der Gestaltung.  

Bild 3: Alternative Konzepte Künstlicher Intelligenz


Der Ansatz der Artificial Intelligence im klassischen Sinne fokussiert auch die Maschine. In diesem Verständnis dient KI dazu, die Intelligenz von Menschen nachzubilden und sie in der Perspektive zu ersetzen. Der Schlüsselbegriff dieses Konzepts ist die Automatisierung, also das Übertragen von Funktionen, die bisher von Menschen erbracht wurden, auf Maschinen. Und das dahinter liegende Zukunftsszenario ist die Technische Singularität. Dieser Ansatz der KI prägt unsere Alltagsdebatten und den öffentlichen Diskurs. Die häufig beschworenen Angstdebatten in der Gesellschaft resultieren wesentlich daraus, dass diese Sicht allenthalben mit dem Konzept der KI geradezu gleichgesetzt werden. 
 

Einen ganz anderen Ansatz verfolgt die Leitorientierung der „Extended Intelligence“ wie sie vom von der IEEE und dem MIT Media Lab eingerichteten Council on Extended Intelligence vorgetragen wird und in anderen Zusammenhängen unter dem Begriff der „Augmented Intelligence“ auch von Vorreiterunternehmen der KI wie IBM oder Palantir favorisiert werden.  

Im Konzept der Extended Intelligence ist der Fokus der Gestaltung der Mensch. Es zielt darauf, KI so zu entwickeln, dass sie diesen unterstützt. Folglich geht es hier nicht primär darum, Intelligenz des Menschen zu simulieren, sondern Muster zu erkennen. Der Schlüsselbegriff dieses Konzepts ist die Information, denn KI hilft Muster in Daten zu erkennen, um verwertbare Informationen erzeugen zu können. Das Ziel dieser Gestaltungsperspektive ist die Emanzipation des Menschen.  

Während es für KI-Experten wie Chris Boos völlig selbstverständlich ist, die Bedeutung der KI in diesem Leitkonzept der Extended Intelligence zu verorten, fokussiert die öffentliche Debatte fast ausschließlich auf die Maschinenperspektive und verbindet die KI mit Robotern und selbstfahrenden Autos. Ähnlich wie der Diskurs zur Digitalisierung in Deutschland generell, führt das zu einer vollkommen falschen paradigmatischen Orientierung des Lernens der Gesellschaft. Denn wer Angst hat, in Zukunft von Maschinen ersetzt und beherrscht zu werden, neigt geradezu naturwüchsig dazu, dieser keine besondere Sympathie entgegen zu bringen. Damit nicht genug, eine am Leitkonzept der Maschine orientierte KI eignet sich nicht, erfolgreich in den Wertschöpfungsprozessen der Zukunft eingesetzt zu werden. Und sie eignet sich auch nicht dazu, den Qualifizierungsprozess der Menschen anzuleiten. 

 

8    KI für den Menschen bauen

Wenn wir dem Leitbild der KI als Extended Intelligence folgen, werden wir anschlussfähig an die strategische Bedeutung der KI in modernen Wertschöpfungskonzepten statt uns in einer Neuauflage der Automatisierungsdebatte des Maschinenzeitalters zu verlieren. Die Wertschöpfung der Informationsökonomie baut darauf auf, dass es eben nicht darauf ankommt, den Menschen zu ersetzen, sondern anstelle der Maschinensysteme zum Zentrum der Wertschöpfung zu machen. Der Grund ist: Maschinen verarbeiten immer nur Daten. Worauf es in der Ökonomie der Zukunft aber ankommt, ist deren Verwandlung in nützliche Informationen und Innovationen. Und die ist nur mit Hilfe menschlicher Intelligenz möglich.  

Dies in Anschlag gebracht erhalten wir ein neuartiges Verständnis des Menschen für die Wertschöpfung der Zukunft. Damit einher geht auch ein anderes Verständnis ihrer Kernkompetenzen. Im Zentrum der Kernkompetenz der Menschen steht in Zukunft die Fähigkeit, aus Daten nützliche Informationen und Innovationen zu machen. Dazu sind die Daten kritisch aufzubereiten und ins Verhältnis zu den Tatbeständen der Welt zu setzen, die sie bezeichnen sollen. Erst in diesem Wechselspiel erhalten wir die nützlichen Informationen, die es möglich machen, Produkte und Leistungen zu innovieren und nützlicher zu gestalten. Das Wissen darüber, was eine Gasturbine physisch ist, ist nicht vollständig über die Daten abzubilden. Es ist essenziell, um die verfügbaren Daten richtig interpretieren zu können. Um also die Information von Rauschen unterscheiden zu können. Diese Fähigkeit der Verwandlung von Daten in Informationen und Innovationen ist wiederum in einer komplex vernetzten Wertschöpfung nur denkbar, wenn Menschen mit ihren Kompetenzen anschlussfähig sind an die Fachlichkeit anderer Arbeitskräfte, die im gemeinsamen Wertschöpfungsprozess tätig sind. Folglich müssen sie über eine „kommunikative Fachlichkeit“ (Bultemeier/Boes 2014, 111) verfügen, die Fähigkeit also ihre Fachlichkeit mit der Fachlichkeit anderer Fachkräfte interaktiv und interdisziplinär zu erweitern. Dies ist eine neue Kompetenz, die bisher aufgrund der Arbeitsteilung im Industriezeitalter in den meisten wissenschaftlichen Disziplinen, aber auch in der Arbeitswelt fast vollständig fehlt.  

Was bedeutet dies für die Gestaltung der KI? Ich schlage vor, KI paradigmatisch im Dreieck von Algorithmen, Daten und menschlicher Intelligenz zu konzipieren. Innerhalb dieses Dreiecks bildet die Intelligenz von Menschen und nicht die der Maschinen den konzeptionellen Fokus der Entwicklung. Der Wert von KI-Systemen bemisst sich dann daran, inwieweit sie die problemlösenden Fähigkeiten von Menschen erweitern. 

Dieses Konzept basiert auf der Überzeugung, dass es einen kategorialen Unterschied zwischen Daten und Informationen gibt. Daten sind das Ausgangsmaterial, das Maschinen verarbeiten. Die Menschen sind es, die hieraus nützliche Informationen machen. Das heißt, sie bleiben unverzichtbar. So könnte man eine Künstliche Intelligenz verwirklichen, die Menschen keine Angst macht. Dies ist das Leitbild, das Europa braucht, wenn es sich als eigene „KI-Petrischale“ in der Welt durchsetzen will.

Damit diese KI ins Fliegen kommen kann, müssen wir sie in eine lebendige „Informationsökonomie“ einbetten und Forschung an den Gestaltungsstrategien für den Übergang in diese Ökonomie orientieren. Und wir benötigen Förderstrategien, die die Künstliche Intelligenz aus dem Reagenzglas in die Anwendung katapultieren. Dazu gehört auch die Förderung einer menschenzentrierten Entwicklung und Nutzung von KI-Anwendungen.

Literaturhinweise

Baukrowitz, A.; Boes, A.: Arbeit in der „Informationsgesellschaft“. Einige grundsätzliche Überlegungen aus einer (fast schon) ungewohnten Perspektive, in: Rudi Schmiede (Ed.), Virtuelle Arbeitswelten. Edition sigma, Berlin 1996, S. 129-158.

Boes, A.; Bultemeier, A.: Neue Spielregeln in modernen Unternehmen – Chancen und Risiken für Frauen, in: Boes, A./Bultemeier, A./Trinczek, R. (Hrsg.): Karrierechancen von Frauen erfolgreich gestalten. Analysen, Strategien und Good Practices aus modernen Unternehmen, Springer Gabler, Wiesbaden 2014, S. 95-165.

Bonin, H.; Gregory, T.; Zierahn, U.: ENDBERICHT Kurzexpertise Nr. 57, Übertragung der Studie von Frey/Osborne (2013) auf Deutschland, ZEW, Mannheim 2015.

Burmeister, K.; Fink, A.; Mayer, C.; Schiel, A.; Schulz-Montag, B.: Szenario-Report: KI-basierte Arbeitswelten 2030, Fraunhofer Verlag, Stuttgart 2019.

Cardon, D.; Cointet, J.-P.; Mazieres, A.: Neurons spike back. The invention of inductive machines and the artificial intelligence controversy. Réseaux, 36(211) (2018), S. 173-220.

Frey, C. B.; Osborne, M. A.: The Future of Employment: How Susceptible are Jobs to Computerization?, Oxford Martin School (OMS) working paper, Oxford (2013).

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Inhalte dürfen ausschließlich unter Angabe der Quelle verwendet werden:

Boes, Andreas (2019): KI – Strategischer Baustein der Arbeit in der Informationsökonomie. Online verfügbar unter https://idguzda.de/blog/ki-strategischer-baustein-der-arbeit-in-der-informationsokonomie [20.11.2019].

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