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Agilität braucht Empowerment: Der Gegenentwurf zum digitalen Fließband

Beitrag von Andreas Boes, Katrin Gül, Tobias Kämpf, Thomas Lühr, Alexander Ziegler, Institut für sozialwissenschaftliche Forschung e.V.

Mitarbeit: Jutta Witte


Die digitale Transformation macht uns gegenwärtig zu Zeitzeugen eines tiefgreifenden Wandels mit weitreichenden Folgen für die Unternehmen und ihre Beschäftigten. Auf der Suche nach einem neuen Bauplan avanciert Agilität nicht nur in hippen Start-ups, sondern auch in traditionsreichen Großunternehmen zur neuen Leitidee. Strukturen, Arbeit und Menschen: Alles soll agil werden. Funktionieren kann das nur mit Empowerment. Ganzheitlich gedacht und beteiligungsorientiert gestaltet ist es das Konzept der Stunde, um die Chancen der Digitalisierung im Sinne der Menschen zu nutzen und eine dystopische Arbeitswelt zu verhindern.

Agilität birgt Chancen und Risiken

In mehr als zehn Jahren empirischer Forschung zu modernen Arbeitsformen wie Lean und Scrum haben wir hautnah erlebt, welche Herausforderungen und Anforderungen an die Gestaltung der Umbruch zur agilen Arbeitswelt mit sich bringt. In vielen Interviews haben uns Führungskräfte, Beschäftigte und Betriebsräte aus der IT-Industrie, der Automobil- und Elektroindustrie sowie dem Maschinenbau über ihre Erfahrungen mit Agilität berichtet. Dieser Blick hinter die Kulissen macht drei Dinge sehr deutlich. Erstens: Die neue Leitidee bietet Chancen für mehr Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung und Demokratie. Aber sie birgt auch Risiken, weil Transparenz und Beschleunigung zunehmen und neue Belastungen mit sich bringen. Zweitens: Agilität erfordert von Beschäftigten und Führungskräften eine neue Haltung und ein neues Rollenverständnis. Drittens: Empowerment ist in der modernen Arbeitswelt durchaus kein Fremdwort mehr, aber die Umsetzung in der Praxis ist alles andere als ein Selbstläufer.

Mitarbeitende und Führungskräfte spielen neue Rollen

Agil, flexibel, vernetzt und kollaborativ sollen die Mitarbeitenden sich in Zukunft in den Arbeitsprozess einbringen, um in der gebotenen Geschwindigkeit die Potenziale der Digitalisierung heben zu können. Eigenverantwortung ist gefragt statt Abarbeiten von exakten Anweisungen des Vorgesetzten. Offenheit für neue Impulse und das Teilen von Wissen statt Pflege des eigenen Expertentums im Silo sind gefordert. Und mehr noch: Bürokratien sollen hinterfragt und mit eigener Gestaltungskraft in intelligente Prozesse überführt werden. Das verlangt nicht nur den Beschäftigten einiges ab. Es bringt auch Führungskräfte an ihre Grenzen. Denn die „Leader“ müssen jetzt lernen „loszulassen“, sich zu „Enablern“ wandeln und die agile Arbeit empowerter Teams richtig auf die Schiene bringen. Zu glauben, dass diese Veränderungen in den Anforderungen automatisch zu mehr Freiheitsgraden und Empowerment führen, ist allerdings ein Trugschluss. Wir haben im Rahmen unseres Forschungsvorhabens „Empowerment in der digitalen Arbeitswelt“ (EdA) in der Praxis nachgeschaut welchen Stellenwert Empowerment in der aktuellen Umbruchsituation hat und wie es tatsächlich in den Unternehmen gelebt wird.

Empowerment in vielen Spielarten

Was wir dort vorfinden, ist ein ziemlich heterogenes Bild. Von Empowerment gibt es momentan viele Spielarten. Aber nur die wenigsten Beispiele zeichnen sich durch eine ehrliche und nachhaltige Umsetzung aus. Wir haben aus dieser Gemengelage drei Prototypen herausgefiltert. So zeigt sich in manchen Bereichen der mittelqualifizierten Verwaltung, aber auch bei hochqualifizierten Programmierern Empowerment als regelrechter Etikettenschwindel. Der Appell lautet in solchen Fällen „Seid doch mal empowert“!, aber das Sagen hat weiterhin die Projektleitung – für viele Mitarbeitende ein Zynismus. Dann gibt es – häufig in Großunternehmen – ein gebremstes Empowerment. Hier begreifen sich Teams durchaus als empowert und sind voller Elan dabei, scheitern aber mit ihrem Bemühen, sich selbst zu managen, immer wieder an den verkrusteten Strukturen ihrer Organisation. Solche Teams geben entweder irgendwann auf oder sie behaupten sich als agile Inseln und schaffen es, mit ihrem bürokratischen Umfeld zu interagieren. Die ideale, wenn auch noch seltene Variante ist nach unserer Beobachtung das konsequente Empowerment wie es in vielen innovativen Start-ups und einigen Leuchtturmprojekten praktiziert wird. Hier herrscht der richtige Spirit. Teams verfügen über große Gestaltungsspielräume und sind in der Lage ihre eigene Planung zu Arbeitsmenge,- inhalt- und mitteln auch durchzusetzen.

Empowerment ganzheitlich denken

Diese Bestandaufnahme erklärt warum wir die Gestaltung jetzt in die Hand nehmen müssen. Ohne Empowerment fällt uns nicht nur die agile Arbeitswelt, sondern auch die gesamte digitale Transformation vor die Füße. Mit Empowerment aber können wir es schaffen, den durch die Digitalisierung forcierten Neuerfindungsprozess so zu nutzen, dass unter Beteiligung der Beschäftigten in der Arbeitswelt mehr Demokratie entsteht. Dies jedoch geht nur, wenn wir Empowerment ganzheitlich denken und bei der Gestaltung zwei Perspektiven zusammenführen:  Zum einen die Makro-Perspektive des strukturellen Empowerments, die sich auf Rahmenbedingungen, Strukturen, Strategien und Praktiken richtet, zum anderen die Mikro-Perspektive des psychologischen Empowerments. Sie bildet die subjektive Wahrnehmung der Beschäftigten ab.

Sieben Dimensionen der Gestaltung

Ausgehend von diesem Ansatz begreifen wir Empowerment als gelingendes Wechselspiel zwischen den betrieblichen Rahmenbedingungen, die das aktive Engagement der Menschen ermöglichen und fördern, und der Bereitschaft der Menschen, sich entsprechend einzubringen. Um den Möglichkeitsraum zu nutzen, der sich derzeit in vielen Unternehmen öffnet, und die Weichen für ein nachhaltiges Empowerment zu stellen, ist es entscheidend sich bewusst zu werden, auf welchen Ebenen dies geschehen muss. Deswegen haben wir sieben Dimensionen entwickelt, die für die Etablierung und nachhaltige Förderung von Empowerment zentral sind: Arbeit im Team, Führung, Lernen, Demokratie, Partizipation & Mitbestimmung, Nachhaltige Arbeitsbedingungen, Sinn in der Arbeit sowie Strukturen & Prozesse.

Aufbruch in eine neue Humanisierung der Arbeitswelt

Wenn es Unternehmen gelingt, in diesen Dimensionen zu denken und die Menschen dabei zu Gestaltenden des Umbruchs zu machen, kann auch Agilität eine Erfolgsgeschichte werden. Am Ende aber geht es um mehr als um die Frage, ob agile Organisationen funktionieren oder nicht. Das Konzept des Empowerments markiert über die Wirtschaft hinaus einen humanistischen Gegenentwurf zum Bedrohungsszenario der Digitalisierung. Statt für Intensivierung von Arbeit und Belastung an digitalen Fließbändern, Vernichtung von Arbeitsplätzen und einer sicheren Zukunft, statt für Überwachung und Kontrolle in Arbeit und Gesellschaft steht es für den Aufbruch in eine neue Humanisierung der Arbeitswelt. In diesem Gegenentwurf werden die Möglichkeiten der Digitalisierung für die Menschen genutzt – und nicht gegen sie! Wenn er sein Potenzial entfalten soll müssen wir die reale Bedeutung von Empowerment in der Praxis ausbauen und weiter entwickeln – von einem Privileg einer kleinen Minderheit in unserer Arbeitsgesellschaft hin zu einer Art „kategorischen Imperativ“ der digitalen Arbeitswelt und zu einer gesellschaftlichen Leitorientierung für die Gestaltung des digitalen Wandels.

Der Beitrag fasst unsere Erkenntnisse aus dem Forschungsvorhaben „Empowerment in der digitalen Arbeitswelt (EdA)“ zusammen. In unserer Abschlusspublikation „Empowerment in der agilen Arbeitswelt: Analysen, Handlungsempfehlungen und Erfolgsfaktoren“ gibt es neben aktuellen Forschungsergebnissen viele spannende Beiträge von Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Unternehmen, Gewerkschaften, Betriebsräten und der Organisationsforschung. Sie benennen die Herausforderungen, skizzieren Strategien und Konzepte, geben Handlungsempfehlungen und entwickeln Leitgedanken für eine erfolgreiche Gestaltung der modernen Arbeitswelt.

Zum Buch: http://eda-projekt.de/neuerscheinung-empowerment-in-der-agilen-arbeitswelt/

Zum Projekt: http://eda-projekt.de/


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Inhalte dürfen ausschließlich unter Angabe der Quelle verwendet werden:

Boes, Andreas; Gül, Katrin; Kämpf, Tobias; Lühr, Thomas; Ziegler, Alexander (2020): Agilität braucht Empowerment. Der Gegenentwurf zum digitalen Fließband. Online verfügbar unter https://idguzda.de/blog/agilitaet-braucht-empowerment/ [05.05.2020].

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