Netzwerk, Patchwork und Working in the Open – Zur Bedeutung sozialer Bindungen im Silicon Valley
Das strategische „Spiel“ mit den sozialen Bindungen hat im Silicon Valley eine neue Dimension erreicht. Der weltweit verfügbare Informationsraum ermöglicht aufgrund seiner besonderen Qualität als neuartiger sozialer Handlungsraum neue Formen der Organisation von Arbeit. Während die neuen Organisationsformen gestern noch als Netzwerke erschienen, mutieren sie heute zu Patchwork-Unternehmen. So wird das „Working in the Open“ zur neuen Leitvorstellung für die Organisation von Arbeit mit schwachen Bindungen.
Die Unternehmen sind hier ebenso wie in Deutschland auf der Suche nach einem Bauplan, der wesentlich auf einen neuen sozialen Integrationsmechanismus hinausläuft. Dabei stehen insbesondere die vertraglichen Beziehungen in den Wertschöpfungsketten und zu den Arbeitskräften und die lokal verankerten Bindungen zur Disposition. Das Thema kennen wir bei uns in Deutschland auch. Wieder zu Hause beobachtete ich gestern beim Einkaufen einen Kleinunternehmer mit einem kleinen LKW, der bei einem Fotoladen, der nebenbei als Poststelle fungiert, die Post abholte. Vor nicht allzu langer Zeit wurde diese Arbeit von Postbeamten mit Uniform erledigt. Starke Bindungen zwischen den Beschäftigten und den Unternehmen waren damals strukturprägend. Die Verbeamtung von einfachen Angestellten ein sichtbarer Ausdruck dieser Sozialbeziehungen. Heute werden diese Beziehungen gelockert. An die Stelle fester Beziehungen treten seit Mitte der 80er Jahre zunehmend schwache Bindungen, die häufig „vermarktlicht“ werden, wie Dieter Sauer betonte.
Diese Entwicklung hat sich mittlerweile tief in die Sozialbeziehungen hinein gefressen. Mark Granovetters netzwerktheoretische Überlegungen zur „Stärke schwacher Bindungen“ wurde mit Blick auf die Vermarklichungstendenzen in den 1990er Jahren diskursprägend. Die aktuelle Diskussion um prekäre Selbständigkeit, Leiharbeiter und Werkverträge ist nachwirkender Ausdruck dieser Tendenz, Bindungen zu lockern. Das Silicon Valley exerziert uns heute vor, in welche Richtung dieser Prozess weiter gehen könnte. Daran können wir zugleich ermessen, über welche Fragen wir nachdenken müssen, um in Deutschland einen neuen Weg im Umgang mit sozialen Bindungen zu finden.
Es wäre grundverkehrt, zu meinen, alle Bindungen im Silicon Valley wären nach dem Prinzip der schwachen Bindungen gestaltet. Ganz im Gegenteil. Das Silicon Valley selbst ist ein gigantischer Komplex sozialer Netzwerke mit einer ausgeprägten Schließung nach außen. Bei aller zur Schau getragenen kalifornischen Lockerheit ist es jenseits amerikanischer Höflichkeit sehr schwer für Außenstehende, in diese Netzwerke hinein zu kommen. Christoph Keese beschreibt dies in seinem Buch eindrücklich. Wir verdanken die intensiven Einblicke ins Innenleben des Valley unseren guten Kontakten zu Unternehmen in Deutschland, die uns in die Netzwerke vor Ort einführten. Wer das nicht hat, bekommt statt ernsthafter Interviews eine nette Showroom-Veranstaltung ohne Substanz. Diese spezifische Form der Schließung funktioniert über persönliche Beziehungen. Nur wer eine Empfehlung eines Menschen in den Netzwerken hat, darf mitspielen. Und vice versa, wer drinnen ist, tauscht sich mit einer erstaunlichen Offenheit über neue Geschäftsideen und technische Entwicklungen aus – und festigt so die soziale Bindung.
Vor diesem Hintergrund mag es nicht überraschen, dass viele Unternehmen ein Modell der Sozialintegration favorisieren, das keineswegs auf schwachen Bindungen, sondern im Gegenteil auf extremer Schließung beruht. Unternehmen wie Google oder Airbnb binden ihre Mitarbeiter für die Zeit ihrer Zugehörigkeit zum Unternehmen sehr eng. Sie funktionieren nach innen wie eine Eliteuniversität, die sich um einen realen Ort, den attraktiv gestalteten Campus zentrieren. Wer hier dazu gehört, ist oben, gehört zu einem kleinen Kreis Ausgesuchter. Man verbringt die meiste Zeit mit den Kollegen auf dem Campus, arbeitet zusammen, treibt Sport oder gestaltet hier den größten Teil seiner Freizeit. Im Extrem wirkt dieses Campus-Modell, so nennen wir dieses Konzept der Sozialintegration, wie eine Sekte. So fest allerdings die Bindungen für die Zeit der Zugehörigkeit zu diesen Unternehmen sind, so leicht können sie wieder aufgekündigt werden. Die Dauer der Arbeitsverträge bei Google ist für unsere Verhältnisse sehr kurz. Viele verlassen das Unternehmen schon nach weniger als einem Jahr wieder. Dass dies dem Renommee des Unternehmens nicht schadet, hat sicher viel mit den lukrativen Aktienoptionen zu tun. Das Unternehmen zahlt nämlich einen Teil des Einkommens in Anteilsscheinen. Wer es bei Google sogar ein paar Jahre aushält, hat mit den erhaltenen Aktien nach der Trennung einen ordentlichen Spielraum, um beispielsweise sein eigenes Start-Up aufzumachen.
Während für die Innovationsnetzwerke und die Campus-Modelle eine starke örtliche Aggregation die Basis für starke soziale Bindungen ist, entwickelt sich gegensätzlich gerade ein zweites Konzept im Silicon Valley, das die notwendigen Bindungen weitgehend über den Informationsraum generiert – und auf einer radikalen Anwendung des Prinzips des Wettbewerbs, verbunden mit der artfremden Anwendung spieltypischer Kulturmuster („Gamification“), basiert. Das aus organisationstheoretischer Sicht Faszinierende an diesen Konzepten ist, dass sie extrem schwache Bindungen und geringe örtliche Aggregationen zu einem neuartigen Organisationsmodell zusammenführen. Dieses Konzept lässt sich nach unserer Meinung nur unzureichend mit dem Konzept des Netzwerkunternehmens, einem Hybrid zwischen Markt und Hierarchie, begreifen. Es handelt sich vielmehr um eine Form von Unternehmen, das seine Integrationsleistung wesentlich über den Informationsraum und nach dem Prinzip des spielerischen Wettbewerbs bewerkstelligt. Wir nennen diesen Typ des Unternehmens bis auf weiteres Patchwork-Unternehmen.
Das am weitesten entwickelte Beispiel eines Patchwork-Unternehmens fanden wir bei jener Crowdsourcing-Plattform für Arbeit im Bereich der Softwareentwickung, die wir bereits an anderer Stelle vorgestellt hatten. Dieses Unternehmen organisiert mit wenigen hundert fest angestellten Mitarbeitern eine Workforce von 900.000 „Crowdsourcees“. Dabei werden die Freelancer in der Crowd nach dem Prinzip des spielerischen Wettbewerbs in Gang gesetzt. Alle in der Crowd zu bearbeitenden Aufgaben werden in kleine Teile von nur wenigen Tagen Aufwand zerlegt und in Form eines Wettbewerbs über die Plattform ausgeschrieben. Eine monetäre Gratifikation erhalten nur die Gewinner des Wettbewerbs, und manchmal die Zweiten. Der Rest erhält Trostpreise wie T-Shirts und, das ist sehr wichtig: Reputationspunkte. Denn über diese Punkte, die Projekterfahrungen und die hinterlegten Qualifikationsprofile wird ein Ranking gemacht. Ein hoher Score ermöglicht – ähnlich wie bei den modernen Strategiespielen im Internet – die Teilnahme an den lukrativen Ausschreibungen.
Es ist für uns bis dahin unvorstellbar gewesen, wie es dem Unternehmen gelingt, trotz extrem schwacher örtlicher und sozialer Bindungen aus den Tausenden von Freelancern einen funktionierenden Arbeitskörper zu machen. Aber genau darin liegt sein Erfolgsgeheimnis. Die Analyse dieses Konzepts und seiner Übertragbarkeit auf andere Bereiche wird einer unserer Forschungsschwerpunkte sein, die wir aus dem Silicon Valley mitgebracht haben.
Das Unternehmen hat aber über die Organisation der Crowd eine weitere Besonderheit. Auch die fest angestellten Mitarbeiter und die Manager arbeiten fast ausschließlich im Informationsraum und sind die meiste Zeit nur über diesen verbunden. Selbst die strategisch wichtigen Manager sehen sich sehr selten an einem Ort. Notwendige Abstimmungsprozesse und Entscheidungen werden über Kommunikationstools wie GoToMeeting getroffen. Dabei ist fundamental, dass diese Entscheidungen durch einen extrem differenzierten Pool an Daten unterlegt sind, über die das Unternehmen verfügt, weil es alles und jedes über den Informationsraum tracken kann. Diese Fähigkeit, alles zu tracken und darüber eine neuartige Informationsbasis über die Wertschöpfungsprozesse und das Verhalten aller Akteure zu schaffen, verbindet im Übrigen dieses Konzept des Patchwork-Unternehmens mit dem Ansatz des Campus-Unternehmens. Auch Google und Co. verlassen sich bei der Binnenintegration keineswegs auf das Muster der elitären Schließung nach außen. Sie wissen ebenso wie das hier referierte Plattform-Unternehmen bestens Bescheid über alle wichtigen Ereignisse in ihrem Unternehmen. Das ist aber bei einem Unternehmen wie Google, das davon lebt, den Informationsraum zu vermessen, nicht anders zu erwarten.
Das hier referierte Plattform-Unternehmen mag den Strategen von IBM Pate gestanden haben, als sie das „Working in the Open“ als neue Leitorientierung für das Unternehmen der Zukunft erfanden. Dabei geht es um Formen der Organisation der Arbeit, bei denen Wertschöpfungsbeziehungen zwischen Unternehmen sowie zwischen Unternehmen und Arbeitskräften jeweils situativ über den Informationsraum für genau den Zeitraum geschlossen werden, für den sie gebraucht werden. Organisationen entstehen also aus situativen Schließungen im Informationsraum und weisen daher einen fluiden Charakter auf. Dieser neue Unternehmenstyp ist also nicht Ergebnis einer „Entgrenzung“, sondern im Gegenteil das Produkt einer Schließung. Mit Bezug auf unseren Münchner Betriebsansatz also: Strategie ohne physischen Betrieb, die im Informationsraum ihre für die Verwertung jeweils notwendige soziale Form annimmt. Es ist auf jeden Fall ein Konzept der Organisation von Arbeit, das unsere Aufmerksamkeit verdient. Denn in dem Maße, wie es gelingt, effiziente Organisationsformen auf der Basis schwacher sozialer und lokaler Bindungen zu etablieren, drohen nationale Rechtssysteme ausgehebelt zu werden und Beziehungen auf Gegenseitigkeit, wie sie im Regulationssystem der Arbeit fundamental sind, ihre materielle Grundlage zu verlieren. Das bedeutet keineswegs das Ende jedweder Regulation. Es wirft diese aber darauf zurück, was sie in ihrem Wesen ist: ein Prozess der Aushandlung unterschiedlicher Interessen, also Politik.