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150 Jahre Zukunft der Arbeit – Grundsätzliche Überlegungen zum Status des Arbeitnehmers aus gegebenem Anlass

Beitrag von Andreas Boes, Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V.

Ist ein Mensch, der sich über eine Plattform seinen Lebensunterhalt verdient, als abhängig Beschäftigter zu bewerten? Das Landesarbeitsgericht Bayern hat diese Frage in seinem Spruch vom Dezember 2019 verneint, aber aufgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Entscheidung die Revision beim Bundesarbeitsgericht zugelassen. Ob hier Aussicht auf Erfolg besteht, mag ich nicht beurteilen. Aus den Gesprächen mit Jeremias Adams-Prassl, Ulrich Mückenberg und Martin Risak, allesamt ausgewiesene Experten auf diesem Rechtsgebiet, habe ich einen laienhaften Eindruck, wie komplex die hier verhandelte Sache schon aus juristischer Sicht ist. Aus meiner bescheidenen soziologischen Perspektive bin ich darüber hinaus allerdings der Überzeugung, dass es sich bei der anstehenden Entscheidung um eine weit über den juristischen Rahmen hinausgehende Angelegenheit handelt. Aus meiner Sicht wird hier nämlich über den Integrationsmodus der modernen Gesellschaft insgesamt verhandelt. Wir sollten also einen Schritt zurücktreten und uns die Tragweite der zu treffenden Entscheidung noch einmal unter weitergehenden sozial-philosophischen und integrationspolitischen Gesichtspunkten vor Augen halten. Dazu möchte ich ein paar Überlegungen beitragen. 

Das Landesarbeitsgerichts begründet seine Entscheidung, dem Kläger den Status eines abhängig Beschäftigten nicht zuzugestehen, laut Spiegel wie folgt: 

Ein Arbeitsvertrag liegt nach der gesetzlichen Definition nur dann vor, wenn der Vertrag die Verpflichtung zur Leistung von weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit vorsieht.  

Diese Begründung hebt auf konkretisierbare Bestimmungen eines Arbeitsvertrags ab und macht diesen zur kardinalen Bestimmung des Rechtsstatus eines abhängig Beschäftigten. Diese unterlegt er mit konkreten und nachprüfbaren Kriterien: a) einer vertraglich vereinbarten Verpflichtung zur Leistungserbringung, b) in einem weisungsgebundenen, fremdbestimmten Arbeitszusammenhang und c) in persönlicher Abhängigkeit. Soweit nachvollziehbar. Möglicherweise fallen anderen Juristen andere Kriterien ein, die den Status der abhängigen Beschäftigung definieren. Und vielleicht kommen sie dann auch zu anderen Ergebnissen. Aber das ist hier gar nicht mein Punkt. Mir geht es um eine grundsätzlichere Überlegung. 

Sowohl der zu prüfende Sachverhalt „abhängige Beschäftigung“, als auch dessen Übersetzung als „es gilt ein Arbeitsvertrag“, als auch die genannten Kriterien, sind allesamt historisch konkrete Erscheinungen eines dahinter liegenden Rechtsguts, um das es eigentlich geht. Folgt man den Überlegungen von Robert Castel, so handelt es sich dabei um den sozialmoralischen „Status des Arbeitnehmers“ (Castel 2000). Dieser bildet den Kern eines spezifischen Integrationsmodus der Lohnarbeit in die kapitalistische Gesellschaft und macht diese zu einer lebbaren Existenzform. Dies wiederum ist die Grundlage für eine gelingende Sozialintegration in der Nachkriegsgesellschaft. 

Dieser „Status des Arbeitnehmers“ bildet aus sozialmoralischer Sicht das eigentlich zu bewahrende Rechtsgut, das in je konkreten historischen Phasen eine je unterschiedliche Ausprägung erfährt. Es geht hier also um eine Frage des Verhältnisses von Wesen und Erscheinung. Und hier ist es wichtig, sich die Praxis der Rechtssprechung genauer anzuschauen. Denn die Praxis der Rechtssprechung strickt gewissermaßen Masche an Masche. Aus vorgängigen Entscheidungen werden weitergehende Entscheidungen. Dabei orientiert sie sich an prüfbaren Kriterien und damit notwendig an den konkret historischen Erscheinungen. In Phasen einer inkrementellen sozialen Entwicklung ist dieses Verfahren durchaus erfolgversprechend. In Phasen eines grundlegenden sozialen Umbruchs ist allerdings zu erwarten, dass die an der vorgängigen historischen Realität gebildeten Kriterien das eigentlich zu schützende Rechtsgut nicht mehr ausreichend abbilden. Mit anderen Worten: Wesen und Erscheinung fallen in Umbruchphasen notwendig auseinander. Ein Zurückgehen zum Wesen der Sache ist erforderlich, um unter neuen historischen Bedingungen den Kriterienkatalog neu zu definieren. Wenn also jetzt bestimmte Interessensgruppen über den Richterspruch des Landesarbeitsgerichts erfreut sind, weil dadurch der Weg frei zu sein scheint, mit der digitalen Gesellschaft ein neues Konzept der Organisation von Arbeit zu etablieren, sollten sie vielleicht einmal darüber nachdenken, ob es ihnen Wert ist, dafür den Integrationsmodus der Nachkriegsgesellschaft zu opfern.

Lassen Sie mich dies mit Blick auf die letzten 150 Jahre der Herausbildung der Nachkriegsgesellschaft kurz illustrieren. 

Wenn wir heute über die Zukunft sprechen, dann sprechen wir notwendigerweise über Entwicklungen, die noch nicht eingetreten sind. Zukunft ist das, was nach der Gegenwart kommen wird. Sie ist prinzipiell offen.  

Mit Blick auf die Zukunft der Arbeit sprechen heute alle von der Digitalisierung. Die Digitalisierung, so heißt es, wird die Arbeit der Menschen grundlegend verändern. Digitalisierung, das erfahren wir aus den Zeitungen, das sind vor allem Maschinensysteme, wie Roboter. Die sahen früher meist martialisch aus und schauen neuerdings immer häufiger geradezu menschlich drein. Und, wer es etwas gebildeter mag, spricht von Algorithmen – also logischen Maschinen. Oder neuerdings gar von künstlicher Intelligenz – also von logischen Maschinen, die in der Lage sind, Muster zu erkennen und sich selbst zu optimieren, aber von menschlicher Intelligenz weit entfernt sind. 

Von diesen neuartigen digitalen Maschinen sind offenbar wahre Wunderdinge zu erwarten. So kommt eine aktuelle Studie des World Economic Forum zur Zukunft der Berufe zu dem Ergebnis, dass Maschinen im Jahre 2022 mit 42% fast so viele Arbeitsstunden verrichten werden wie Menschen. Maschinen, so die allenthalben kolportierte Schlussfolgerung, ersetzen immer größere Bereiche menschlicher Arbeit. Die häufig zitierte Studie zu diesem Thema, die im Jahr 2013 erschienene Arbeit von Frey und Osborne, prognostiziert für den US-amerikanischen Arbeitsmarkt, dass für 47% Beschäftigten ein hohes Risiko bestehe, durch Computerisierung in den nächsten 20 Jahren verdrängt zu werden, für 19% ein mittleres Risiko und nur für 33% ein geringes Risiko. Und auch wenn danach viele Studien vorgelegt wurden, die das Gegenteil behaupten: Der Stachel der Angst sitzt dennoch tief. Die in diesem Kontext auch aus Kreisen der Wirtschaft häufig vorgetragene Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen, steigert diese Angst eher als dass sie die Menschen beruhigt. 

Schaut man genauer hin, so sind diese Zukunftsprognosen eigentlich gar nicht so revolutionär neu. Der aktuell bestimmende Diskurs über die Zukunft der Arbeit versucht vielmehr, die Zukunft als Fortsetzung des Alten fortzuschreiben. Die Digitalisierung erscheint hier als eine Radikalisierung der Automatisierung des industriellen Maschinenzeitalters: Menschliche Arbeit wird ersetzt durch Maschinen hoch zwei. Denn diese radikale Automatisierung trifft nun nicht mehr nur die „Handarbeiter und Handarbeiterinnen” in den Fabriken. Sie greift nun auch nach den „Kopfarbeiterinnen und Kopfarbeitern“ in den Büros, ja sie greift sogar nach den hochqualifizierten Arbeitskräften, den Rechtsanwälten, Röntgenärzten und den Führungskräften in Unternehmen und Verwaltung. 

Diese rückwärtsgewandte Sicht auf die Zukunft der Arbeit wirkt sich aktuell doppelt negativ auf die Bereitschaft der Menschen aus, den sich abzeichnenden gesellschaftlichen Umbruch zukunftsorientiert und mit einem gewissen Optimismus zu gestalten. Lust auf Zukunft findet man daher eher selten.  

Das ist in der Art, wie das Thema öffentlich vorgetragen wird, geradezu angelegt. Denn erstens wird so getan, als wäre es die Technik, die sich gegen die Menschen verschworen habe. Dies macht Menschen zu Objekten, zum Spielball der technischen Entwicklung. Je abstrakter und undurchschaubarer diese Technik ist, desto hilfloser fühlen sie sich. Und zweitens hebelt der auf die Ersetzung des Menschen durch die Technik fixierte Diskurs die Zukunftserwartungen der modernen Gesellschaften aus – mit verheerenden Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. 

Denn das Denken über die Zukunft ist für uns moderne Menschen immer mit der impliziten Erwartung verbunden, dass sich etwas ändert und dass es besser werden könnte. Die Erfüllung dieser Erwartung war viele Jahrzehnte prägend für den Zusammenhalt der modernen Gesellschaften. Sie wurden von der Überzeugung der Menschen getragen, dass sie in einer Phase des gesellschaftlichen Fortschritts leben. „Mein Kind wird es einmal besser haben!” Diese begründete Erwartung bildet eine wesentliche Stütze der sozialen Stabilität der Nachkriegsgesellschaften in Europa. 

Heute erleben wir, dass diese Zukunftsgewissheit der Nachkriegsgesellschaften erodiert. Im Erleben vieler Menschen droht der sich andeutende digitale Umbruch die Grundfesten des Zukunftsversprechens der modernen Gesellschaft vollends zum Einsturz zu bringen. Desorientierung und Unsicherheit sind die Folgen. 

Zukunft also ist fundamental für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Aber „eine Zukunft zu haben“, über eine diesseitige Zukunft nachzudenken, gar zu erwarten, dass sie Fortschritte bringt – das gibt es im Erleben der einfachen Menschen historisch noch gar nicht so lange.  

Wann begann also die so verstandene Zukunft der Arbeit? Für die große Mehrheit der Menschen begann sie dort, wo auch diese anfingen, Hoffnung zu schöpfen, dass auch ihr diesseitiges Leben einmal besser werden könnte! Das führt uns zurück in die Zeit, als die „große Industrie“ (Marx) sich im 18. und 19. Jahrhundert durchzusetzen begann. Denn sie brachte den entscheidenden Produktivkraftfortschritt, der den modernen Gesellschaften zugrunde liegt. Doch damals wie heute haben die Menschen diesen Produktivkraftfortschritt zunächst nicht als solchen erkennen können. Den Menschen in dieser Zeit wäre es vielmehr wie der blanke Hohn erschienen, von einem Fortschritt zu sprechen. Wir erinnern uns beispielsweise an die hilflosen Versuche handwerklich qualifizierter Arbeiter, die als Maschinenstürmer” ihrer Degradierung gegenüber den Maschinensystemen zu entgehen suchten. 

Die Berichte der Zeitzeugen resümierend prägte Karl Marx mit Blick auf die miserablen Arbeitsbedingungen in den Fabriken den Satz, dass die „große Industrie“ in ihrer Anfangsphase vor allem als Durchsetzung von „Weiber- und Kinderarbeit” auf die Welt gekommen sei. Und trotz dieser manifesten Verelendungstendenzen waren Marx und die von ihm beeinflusste Arbeiterbewegung klug genug, die Dialektik dieser historischen Entwicklung zu verstehen. Was nämlich auf der Oberfläche als Versklavung des Menschen unter die Maschinen daherkam, barg zugleich einen gigantischen Produktivkraftfortschritt in sich und öffnete das Fenster für eine wirklich menschliche Gesellschaft mit mehr Wohlstand, sozialer Absicherung und Perspektiven für die kommenden Generationen. 

Es ist diese Zukunftserwartung, die die Anfänge der Arbeiterbewegung und ihre Identität wesentlich prägt. Wir erinnern uns beispielsweise an die Zeilen: 

„Brüder zur Sonne zur Freiheit
Brüder zum Lichte empor
Hell aus dem dunklen Vergangen
leuchtet die Zukunft hervor.” 

Die Dialektik der „großen Industrie” mit der Verelendung und Unterwerfung der Menschen auf der einen Seite und dem historischen Produktivkraftpotential auf der anderen Seite, bildet den wesentlichen Streitpunkt der sozialen Auseinandersetzungen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Die Gründung der Sozialministerien vor gut 100 Jahren ist ein manifester Ausdruck dieser sozialen Auseinandersetzungen. Sowohl mit Blick auf die Entwicklung der Produktivkräfte, als auch auf die damit einhergehenden sozialen Herausforderungen lässt sich von der Durchsetzung der „großen Industrie” bis zum heutigen digitalen Umbruch eine starke historische Verbindung herstellen. Sie hilft uns, die aktuellen Herausforderungen besser zu verstehen. 

Die Durchsetzung der „großen Industrie” schuf nämlich nicht nur die Voraussetzung für die industrielle Produktionsweise, sie bildete zugleich auch die Basis für einen weiteren Schub in der Entwicklung der Produktivkräfte. Aufbauend auf Zeichensystemen und frühen Informationssystemen wie der doppelten Buchhaltung, erhielt nämlich die Informatisierung, also der Prozess der systematischen Sammlung und Nutzung von Informationen zur Steuerung und Kontrolle von Arbeit, mit der Industrialisierung eine immer größere Bedeutung. Dieser neuerliche Produktivkraftschub, diesmal auf Seiten der „Kopfarbeit”, war eine Komplementärentwicklung der Maschinisierung. Mit dieser Entwicklung erreichte der Kapitalismus ein neues Stadium. 

Neben die gigantischen Maschinensysteme der Fabrik trat die bereits in der Renaissance angelegte Vorstellung der rationalen Steuerung und Kontrolle des Produktionsprozesses, wenn nicht sogar der Gesellschaften insgesamt, auf der Basis von rationalen Informationen. Dieser Prozess der Informatisierung erhielt durch die Gründerkrise im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einen enormen Auftrieb und erlebte bereits im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts – also weit vor der Erfindung der Computertechnologie seinen ersten großen Durchbruch. 

Doch dieser Zugewinn an gesellschaftlicher und unternehmerischer Planungskompetenz konnte die Krisenpotentiale des Kapitalismus nicht bändigen. Und als der „schwarze Freitag” des Jahres 1929 eine große Krise der Weltwirtschaft einleitete, zerstoben die ersten zarten Zukunftshoffnungen der Menschen mit großer Wucht und mündeten in eine lange Phase der zivilisatorischen Destruktion. Diese Phase der Zerstörung reflektierend gehört es zu den grundlegenden Errungenschaften nach dem Zweiten Weltkrieg, dass es nun – gestützt auf verschiedene soziale Innovationen – nach und nach gelang, eine stabile gesellschaftliche Entwicklung zu ermöglichen und das Zukunftsversprechen der „großen Industrie” für die große Mehrheit der Menschen in den frühindustrialisierten Gesellschaften zumindest partiell zu verwirklichen. 

Folgt man den Überlegungen des französischen Soziologen Robert Castel (2000), so besteht die wichtigste soziale Innovation dieser Zeit in der Durchsetzung des Status des Arbeitnehmers“. Er unterscheidet in historischer Sicht drei bestimmende Formen der Lohnarbeit: die auf kurzfristigen Kontrakten basierende proletarische Lage, die gesellschaftlich marginalisierte Arbeiterlage und die auf einem gesellschaftlichen Anerkennungsverhältnis basierende Arbeitnehmerlage. In diesem Wandel vom Tagelöhner zum Status des Arbeitnehmers liegt eine fundamentale Erkenntnis: Die Gesellschaften haben im Laufe eines mühsamen sozialen Prozesses gelernt, dass Lohnarbeit nicht einfach wie jede andere Ware kontraktualisiert werden darf. Sie weist vielmehr eine Verletzlichkeit auf, die aus einem asymmetrischen Machtverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer resultiert. Deshalb benötigen moderne Gesellschaften ein Regulationssystem, das die Schwächeren in diesem ungleichen Tauschverhältnis mit gesonderten Rechten ausstattet. Sozialversicherungen, Mitbestimmungsrechte, Arbeits- und Tarifrecht sind der praktische Ausdruck des Status des Arbeitnehmers. Auf dieser Grundeinsicht basiert der Integrationsmechanismus moderner Gesellschaften: Lohnarbeit in ihrer Verletzlichkeit braucht eine spezifische Form des Schutzes, weil eine kapitalistische Gesellschaft nur so in zivilisierter Weise funktionieren kann (Boes/Bultemeier 2010). 

Dieser Status des Arbeitnehmers bildet die entscheidende soziale Grundlage für eine vergleichsweise lange historische Phase einer stabilen gesellschaftlichen Entwicklung, weil er erstmals in der Geschichte des Kapitalismus das Dasein von Lohnarbeiterinnen und Lohnarbeitern zu einer lebbaren und sogar lebenswerten Existenz gemacht hat. Konstitutiv hierfür ist es, dass die Menschen Zukunftspläne nicht nur hegen, sondern auch verwirklichen können, dass sie mit einem gewissen Optimismus in die Zukunft blicken können. Dabei geht es oft nicht um das Schicksal des Einzelnen, sondern um die generationale Zukunftserwartung. „Mein Kind wird es einmal besser haben!” – in diesem Satz steckte das Erfolgsgeheimnis des Zusammenhalts der Nachkriegsgesellschaften.  

Genau dieser Status des Arbeitnehmers steht heute zur Disposition. Denn mit dem Übergang zur „Informationsökonomie” erleben wir einen erneuten historischen Umbruch, der in seiner Bedeutung mit der Durchsetzung der „großen Industrie“ vergleichbar ist. Und wieder müssen wir soziale Innovationen finden, die es uns ermöglichen, diesen Produktivkraftsprung in gesellschaftliche Wohlfahrt zu verwandeln. Aber anders als im Übergang zur „großen Industrie” haben wir diesmal keine hundert Jahre Zeit, um die richtigen Lehren aus der Geschichte zu ziehen. 

Lassen Sie mich die aktuellen Herausforderungen kurz reflektieren. Was macht den erneuten Umbruch in der Arbeit aus? Was bestimmt deren Zukunft? 

Was wir im öffentlichen Diskurs als „Digitalisierung” bezeichnen, ist vor allem ein Fortschritt in der Steigerung der geistigen Fähigkeiten der Menschen und der verbesserten Nutzung von Informationen zur Planung, Steuerung und Kontrolle des Weltgeschehens. Die Basis für diesen erneuten Produktivkraftsprung ist die Durchsetzung eines weltweit verfügbaren „Informationsraums”, der sich seit den 1990er Jahren mit dem Internet herausgebildet hat. Dieser Informationsraum ist nicht einfach Technik, er ist ein neuartiger sozialer Handlungsraum. Er entsteht, weil Menschen miteinander über das Internet in stabile soziale Beziehungen treten. Der Informationsraum durchdringt die Weltgesellschaft, vernetzt sie und macht alle Formen von Informationen aneinander anschlussfähig. Für die Wirtschaft wiederum ist der Informationsraum ein globaler „Raum der Produktion“ geworden: die zentrale Bezugsebene für Arbeit und Wertschöpfung. 

Diese Entwicklung begründet einen erneuten historischen Umbruch. An Stelle des Paradigmas der „großen Industrie” tritt nun das Paradigma der Informationsökonomie (Boes/Langes 2019). Diese bricht sich in immer weiteren Teilen der Weltwirtschaft Bahn. Vor allem die Unternehmen aus dem Silicon Valley und zunehmend aus China treiben diese Entwicklung voran. Mit ihren auf eine Veränderung der Spielregeln ganzer Märkte zielenden disruptiven Geschäftsmodellen, erobern sie immer mehr reife Märkte und machen angestammten Unternehmen in ihrem Kerngeschäft Konkurrenz.  

Vorreiter-Unternehmen in der Informationsökonomie entwickeln ausgehend von der Informationsebene konsequent datenbasierte und kundenzentrierte Geschäftsmodelle. Sie entwickeln dabei neue Konzepte, um die Menschen in diesem Informationsraum berechenbar und damit verwertbar zu machen. Das ist ihre Kernkompetenz, egal ob sie Amazon, Google, Facebook oder UBER heißen. Über den Informationsraum erfolgt aktuell auch der Brückenschlag der digitalen Welt in die analoge Welt. Die disruptive Wucht der Digitalisierung dringt so auch in die industriellen Kerne ein.  

Mit den neuen Geschäftsmodellen wird die Organisation von Arbeit radikal neu gedacht.  Arbeit findet zunehmend im Informationsraum, also nahezu unabhängig vom Ort, statt. Und Plattformen werden immer mehr zu Drehscheiben für die Organisation der Arbeitsprozesse (Vogl 2018; Langes/Vogl 2019). Diese fungieren als neuartige „Arbeitsräume“, die Arbeit unabhängig von ihrem Ort in einen gemeinsamen Produktionsprozess einbinden. Diese Entwicklungen zu Ende gedacht, entsteht aktuell ein neues Prinzip der Organisation von Arbeit: IBM nennt dies sehr weitsinnig „Working in the open“. In dieser Vorstellung bilden die Unternehmen über Plattformen im weltweiten Maßstab schlagkräftige Workforces“ im flexiblen Zusammenschluss der Kompetenzen und Leistungen unterschiedlichster Arbeitskräfte und mitarbeitender Kunden im globalen Maßstab (Boes et al. 2014). 

Auf diesen Plattformen sind zunächst einmal alle gleich. Sie haben nur unterschiedliche Zugriffsrechte. Diese Gleichsetzung von fest angestellten Beschäftigten, Freelancern, Kunden und Crowdworkern bedeutet letztlich, dass vollkommen unterschiedliche Rechtssysteme zueinander in Konkurrenz gebracht werden (Boes 2017). Wenn man die Dinge in dieser Situation marktwirtschaftlich laufen lässt, ist abzusehen, dass diejenigen Rechte, die Schutz und Integration gewähren, auf der Strecke bleiben. Aus dieser Situation, so glaube ich, resultiert die eingangs angesprochene Gefahr, dass der Status des Arbeitnehmers strukturell unterhöhlt wird und wir zurückfallen in eine Zeit, in der Arbeitsverhältnisse über Kontrakte geregelt wurden. 

Angesichts dieser Entwicklungen sind zwei Herausforderungen entscheidend: Wir müssen erstens lernen, das positive Potential des erneuten Produktivkraftsprungs zu identifizieren und daraus überzeugende Zukunftsvisionen entwickeln, um darauf aufbauend das Potential durch soziale Innovationen in Wohlfahrt für die Menschen zu verwandeln. Nur so können wir wieder Lust auf Zukunft wecken. Dazu ist es zweitens notwendig, dass wir den Status des Arbeitnehmers nicht als etwas Verstaubtes und Überlebtes, sondern als die zentrale soziale Innovation des 20. Jahrhunderts betrachten. Er ist kein Anachronismus – gerade nicht in der Informationsökonomie des 21. Jahrhunderts. Wir müssen ihn vielmehr als Kern des Integrationsmechanismus moderner Gesellschaften reformulieren. Nur so können wir es schaffen, dass Lohnarbeit, in welcher Form auch immer, in der kapitalistischen Gesellschaft integriert und deren Zukunftsfähigkeit erhalten bleibt. Denn am Ende werden wir die Herausforderungen des Umbruchs in Arbeit und Gesellschaft nur erfolgreich bewältigen, wenn es uns gelingt, dieses Projekt zu einem gemeinsamen Projekt aller Menschen zu machen.  


Literaturhinweise

Boes, A. (2017): Cloudworking und die Zukunft der Erwerbsarbeit, Soziale Sicherheit. Fachzeitschift der österreichischen Sozialversicherung. Heft 1/2017, S. 16-21.

Boes, A./Bultemeier, A. (2010): Anerkennung im System permanenter Bewährung, in: Soeffner, H.-G. (Hg.): Unsichere Zeiten. Herausforderungen gesellschaftlicher Transformationen. Verhandlungen des 34. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden.

Boes, A./Kämpf, T./ Langes, B./Lühr, T./Steglich, S. (2014): Cloudworking und die Zukunft der Arbeit. Kritische Analysen am Beispiel der Strategie „Generation Open“ von IBM. Beratungsstelle für Technologiefolgen und Qualifizierung (BTQ) im Bildungswerk der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) im Lande Hessen e. V./Input Consulting GmbH Stuttgart, BTQ Kassel, Kassel.

Boes, A./Langes, B. (2019): Die Cloud und der digitale Umbruch in Wirtschaft und Arbeit. Strategien – Best Practices – Gestaltungsimpulse. Haufe, Freiburg.

Castel, R. (2000): Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit. UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz.

Centre for the New Economy and Society (2018): The Future of Jobs Report 2018. World Economic Forum, Cologny/Geneva.

Frey, C. B./Osborne, M. A. (2013): The Future of Employment: How Susceptible are Jobs to Computerization?, Oxford Martin School (OMS) working paper, Oxford.

Langes, B./Vogl, E. (2019): Arbeit in der Informationsökonomie. In: Boes, A. und B. Langes (Hrsg.). Die Cloud und der digitale Umbruch in Wirtschaft und Arbeit: Strategien, Best Practices und Gestaltungsimpulse. Freiburg. Haufe. S. 147-173.

Vogl, E. (2018): Crowdsourcing-Plattformen als neue Marktplätze für Arbeit. Die Neuorganisation von Arbeit im Informationsraum und ihre Implikationen. Rainer Hampp Verlag, Augsburg.

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Boes, Andreas (2019): 150 Jahre Zukunft der Arbeit – Grundsätzliche Überlegungen zum Status des Arbeitnehmers aus gegebenem Anlass. Online verfügbar unter https://idguzda.de/blog/150-jahre-zukunft-der-arbeit [05.12.2019].

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